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Keule für Präventivschläge

Alexander Grau seziert die „Hypermoral“ als Mittel zur Unterdrückung gesellschaftlicher Debatten

„Es ist schwer erträglich, wie über das Schicksal von Menschen gefeilscht wird“, schrieb vor ein paar Tagen eine Redakteurin des „Tagesspiegel“ über die Familiennachzugs-Debatte unter den möglichen Jamaika-Koalitionären. Es handelt sich geradezu um einen idealtypischen Fall für das, was Alexander Grau in seinem Buch „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“* als den herrschenden Stil der Nichtdebatten in Deutschland beschreibt:

Wer also auch nur darüber diskutieren will, wie viel Familiennachzug von Migranten das Land nach der Grenzöffnung von 2015 noch verträgt, der ist kein satisfaktionsfähiger Gesprächsteilnehmer, sondern ein Ausbund an Unmoral.

Das Büchlein Alexander Graus kommt in einem konzentrierten Format daher, groß wie ein Briefumschlag und 128 Seiten dick. Aber gerade wegen seiner großen Zugänglichkeit ist es das Buch der Stunde. Es beschreibt die Hypermoral als (vorläufig erfolgreiches) Instrument zur Debattenunterdrückung. Grau muss es nicht explizit aussprechen: es handelt sich um ein Phänomen, das die Epoche Merkel durch und durch prägt.

Der in München lebende und schreibende Autor und studierte Philosoph nähert sich seinem Gegenstand mit solidem Handwerkszeug, indem er zunächst Moral und Hypermoral unterscheidet. Moral sieht er als stabilisierendes Element, das die meisten schätzen, weil sie nicht die Regeln des Zusammenlebens täglich neu aushandeln wollen. Trotzdem wird über Moral debattiert. Ihr Vorteil, schreibt Grau, bestehe gerade darin, dass sie permanent nachjustiert werden kann, wenn auch unter ständigen Kämpfen, in denen sich unentwegt „Traditionalisten und Modernisierer, Spießer und Hallodris gegenüberstehen.“

Genau das unterscheidet sie von der Hypermoral, zumindest aus Sicht der Übermoralisten: Sie steht grundsätzlich nicht zur Debatte, sie soll auch gar keine Gemeinschaft stiften, sondern als Keule zum Präventivschlag gegen jeden möglichen Kontrahenten dienen, ob in der Einwanderungs-, Klima- oder Sexismusdebatte. „Wer sich etwa gegen eine mutikulturelle Gesellschaft ausspricht, gegen massive Einwanderung und für den Versuch, auch im Zeitalter der Massenmigration kulturelle Homogenität zu wahren“, skizziert der Autor die Kampftechnik, „der begreift entweder die Moderne nicht, übersieht die Alternativlosigkeit, hantiert mit unsauberen Begriffen oder wird von Ängsten und Schlimmerem beherrscht. Die Folge: Wer den moralistischen Inhalten widerspricht, dem wird seine Autonomie und Urteilskraft abgesprochen.“

Hypermoral, so das Fazit Alexander Graus, ist eben keine einfach nur erweiterte Moral. Sie ist Ideologie, die geradewegs in den Selbstwiderspruch führt: „Vielfalt wird zur Einheitsideologie.“

Ideologie hat in allen Zeiten Ideologiekritiker hervorgebracht. Das beweist „Hypermoral“ trotz seines schmalen Umfangs ganz vorzüglich.

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*Alexander Grau „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung.“ Claudius-Verlag, 128 Seiten 12 Euro

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Kommentare anzeigen (1)

  • "Es ist schwer erträglich, wie über das Schicksal von Menschen gefeilscht wird“, schrieb vor ein paar Tagen eine Redakteurin des „Tagesspiegel"..."

    Für wen ist es schwer erträglich? Für mich war schwer erträglich, wie 2015 im Kanzleramt über unser aller Schicksal gefeilscht wurde und wir in einen nicht mehr kontrollierbaren Staat verwandelt wurden. Das ist etwas, das die meisten Menschen im Land über die nächsten Generationen massiv betreffen wird.

    Sollte es dagegen für die Redakteurin des „Tagesspiegel" persönlich schwer erträglich sein, dass über Familiennachzug gefeilscht wird, dann möge sie derart Persönliches als professionelle Journalistin für sich behalten, oder aber genau erklären, warum uns das Schicksal Fremder näher sein soll als das unsere.