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Einstürzende Rauten

Nach dem Jamaika-Ende geben sich die deutschen Medien so wirr wie schon lange nicht mehr

Seit der Wahl Donald Trumps und der Brexit-Entscheidung existiert eine gewisse Routine der deutschen Medien: Leitartikler und andere Meinungsinhaber stellen fest, dass die Zeitläufte schmählich darin versagt hat, ihre Prognosen zu erfüllen. Am Mittwoch vergangener Woche lautete der Beschluss der Medienschaffenden noch, mitgeteilt in einer Einheitsformulierung von ARD, Stern, Süddeutsche bis BILD: Jamaika ist auf der Zielgeraden. BILD ragte zugegebenermaßen mit der Doppelmetapher heraus, der „Jamaika-Poker“ befinde sich auf der „Zielgeraden“.


Und jetzt das. So viel Renitenz seitens der Wirklichkeit macht Redakteure wütend. Leider auch ein bisschen wirr. Um mit dem Schreiber zu beginnen, dessen Gesicht die meisten  bei „wirr“ sofort assoziieren dürften: für Franz Josef Wagner von der BILD begann die Woche schlimm. „Als ich aufwachte, waren wir ein Land ohne Regierung.“ Was eigentlich die Frau im Kanzleramt und Sigmar Gabriel auf Auslandsreise machen, vertieft er nicht weiter.
Nun ist Wagner Briefschreiber und kein Politikredakteur. Bei denen sieht es aber kaum anders aus. „Fahnenflucht“ titelte die B.Z. am Dienstag nach der Katastrophe. Und meint dabei vor allem einen Fahnenflüchtigen: Christian Lindner. Nun bedeutet Fahnenflucht bekanntlich, als Soldat seinen Fahneneid zu brechen. Welchen Eid soll der FDP-Chef geleistet haben, der ihn verpflichten würde, gefälligst für die Mehrheit einer vierten Regierung Merkel zu sorgen? Wenn eine Zeitung keinen Unterschied mehr zwischen freien Abgeordneten (und nur die werden gewählt, keine Koalition) und militärischer Truppe erkennt, dann sagt das auch etwas über das politische Klima in Deutschland Ende 2017 aus.
Auch Heribert Prantl sieht eigentlich keine Parteien mehr, sondern nur gute und ungute Politiker. Und wer ungut ist (also die Kanzlerin nicht stützen will), der ist folglich auch rechts:

„Die Lindner-FDP hat die Sondierungsgespräche dazu missbraucht, um sich nach Vorbild des ehemaligen FPÖ-Chefs zu ‚haiderisieren’ – um dann gegebenenfalls bei einer Neuwahl der AfD Stimmen wegzunehmen. Parteichef Lindner wollte potenziellen AfD-Wählern zeigen, dass sie auch bei seiner FDP gut aufgehoben sind.“

Das findet auch der Tagesspiegel in seinem Leitartikel:

„Das Projekt kleine Volkspartei (…)mit einer Liste Lindner, angelehnt im national(liberal)en Ton sogar auch an die FPÖ – das führt in die Irre.“

In der Umkehrung von Johannes Gross gilt jetzt offenbar: Rechts zu sein bedarf es wenig. Worin besteht nun eigentlich Lindners Blitzradikalisierung zum deutschen Haider? Er ist rechts und national, weil er die Abschaffung des Solidaritätszuschlags bis 2021 forderte (wie übrigens auch der Wirtschaftsflügel der Union)? Weil er das Erneuerbare-Energien-Gesetz für völlig gescheitert hält (wie praktisch jeder Experte)? Oder weil er darauf besteht, dass Migranten, die weder unter Asyl- noch Flüchtlingsschutz stehen, auch weiterhin ihre Familien nicht nach Deutschland bringen sollen? Das hatte im vergangenen Jahr übrigens die Union genau so zusammen mit der SPD beschlossen.  Was empfiehlt Prantl am Ende seines Traktats? Eine Koalition aus Union und SPD. Was wieder einmal den Verdacht nährt, dass Deutschlands moralischster Leitartikler seine Texte vielleicht eigenhändig tippt, sie aber vor Drucklegung nicht noch einmal durchliest.
Dann würde ihm die Absurdität auffallen, Lindner dafür zu beschimpfen, dass er nach 56 Tagen Sondierung zu dem Schluss kommt: ich will da nicht mitmachen, und ihm gleichzeitig eine Haiderähnlichkeit nachzuweisen. Was nach Prantls Maßstäben nur heißen kann: er soll, ja er darf gar nicht mitmachen.
Einen Ausflug ins Postfaktische unternimmt die Berliner Zeitung vom Mittwoch, die den Paria Lindner im Bundestag beschreibt:
„Es gibt keinen Kanzlerinnenblick für Christian Lindner, ganze zehn Minuten nicht.“
Und warum?
„Seine FDP ist nun nicht mehr Regierungspartner, sondern Regierungsverhinderer.“ Richtig ist: Lindners FDP war nie irgendjemandes Regierungspartner. Er führte sie erst wieder aus dem außerparlamentarischen Dasein in den Bundestag. Und wieso sollte Lindner eine Neuauflage der großen Koalition „verhindern“? Erpresst er Martin Schulz mit unvorteilhaften Fotos? Das ist in jeder Hinsicht kaum vorstellbar.
Einen tiefen Blick in die Geschichte wirft wiederum der Tagesspiegel:
„Wenn das Hans-Dietrich Genscher wüsste! Der war der Meister der Kompromisse – und seine politischen Nachfahren, die sich auf ihn berufen,(…) wollen nicht einmal Gesellen sein?“
Nun besteht ja der Tagesspiegel bereits ein paar Jahre. Vermutlich gibt es dort sogar ein Hausarchiv, dem der Leitartikler entnehmen könnte, dass Genscher 1982 sogar die Koalition mit der SPD platzen ließ. Und zwar deshalb, weil er in Haushalts- und anderen Fragen eben keine Kompromissmöglichkeit mehr mit Helmut Schmidt und vor allem dessen Partei sah. Er betrachtete es auch nicht als Aufgabe der FDP, einen abgewirtschafteten Kanzler möglichst lange im Amt zu halten.
Für einen Koalitionär gibt es tatsächlich etwas zu brechen. Lindner, um es noch einmal festzuhalten, war nie Regierungspartner von Merkel, er befand sich auch nicht in Koalitionsverhandlungen. Sondern in einer Sondierung, die den Zweck hatte, Gemeinsamkeiten zwischen vier Parteien auszutesten. Alle vier hatten vor Beginn erklärt, selbstverständlich verhandle man ergebnisoffen. Und da steht einer urplötzlich nach einem Monat und zwei Verlängerungen „mitten in der Nacht“ (ZDF heute) auf und geht? Das ist selbstredend „eine Bewährungsprobe für die Demokraten und die Demokratie in Deutschland“ (Berliner Zeitung). Wo nicht gar für die Demokratie im Universum. Wann bestellt Darth Vader die Parteivorsitzenden endlich zu Einzelgesprächen?
Zusammengefasst lautet das Medienurteil über Christian Lindner: er hat schwere Schuld auf sich geladen, indem er nicht nur die Ziele der Grünen nicht einfach übernahm, sondern auch noch darauf bestand, zumindest Teile seines Wahlprogramms durchzusetzen, statt einfach einen Fahneneid auf Angela Merkel zu schwören. Es ist schließlich klar, worin die Aufgabe eines Abgeordneten besteht: die Weltkanzlerin beim Regieren zu unterstützen, statt in der Opposition herumzuhaidern. Die Journalisten tun in dieser Hinsicht doch auch nur ihre Pflicht.
Dafür verdienen sie sich auch den einen oder anderen freundlichen Kanzlerinnenblick.

Alexander Wendt: Weitere Profile:

Kommentare anzeigen (27)

  • Herr Wendt, vielen Dank für Ihre völlig korrekte Beschreibung eines Zustandes in diesem Lande, der Schauder lässt. Wie kann es sein, dass anscheinend jede Partei nach der Wahl lediglich als Steigbügelhalterin für die ewige Kanzlerin herhalten soll? Und wenn eine Partei hinter ihren Wahlversprechen steht und den Irrsinn von Jamaika nicht mittragen kann, soll sie ein Demokratiefeind sein? Dieses Land steht Kopf!

    • Für mich liegt die Ursache der Reaktionen der Journalisten, in ihrem Werdegang. Die Leute gingen lange zur Schule und waren links. Sie wichen jeder konkreten Berufsausbildung weiträumig aus, weil sie mit Werkzeug persönlich verunglücken und mit Logik im Streit stehen.
      Also besuchten sie die Journalisten-Schule und machten was in „Sprache“, wurden Angstellte bei der „Klatschpresse“, möchten lieber zum besser zahlenden GEZ-Funk und bleiben als Systemlinge angepasst.
      Sehr schön bei Youtube: Uwe Steimle, „die Spitze des Eisbergs“ zu sehen.
      Diese Eindimensionalität ist Markenzeichen von Schwätzern und Schauspielern die ihre Rollen abspulen, wie Systemlemminge.

      • ...und wenn sie sich dann wenigstens auf objektive unvoreingenommene reine Berichterstattung konzentrieren würden,statt in vorrauseilendem EduardSchnitzler-Gehorsam selbst Politik und Meinungsmache zu betreiben, aber Herr Wendt drückt es mit dem Schlußsatz schon gut aus und ich möchte hinzufügen, es ist legitime selbstschützende Korruption in einer blanken Diktatur für einen wohlwollenden Blick des Mächtigsten untertänigst dessen Willen abzubilden indem es schlimmste Bestrafung vermeidet.
        Für den deutschen Journalisten würde der Hauch von Kritik an alternativloser kaiserlicher Politik bereits schlimmste Srafen nach sich ziehen, indem die anderen wilhelminischen Untertanen diesen "Fahnenflüchtigen" dann reflexartig im rechten Lager verorten und dieser statt auf Staatsknete dann auf Spenden angewiesen ist.
        Wie befreit würde auch der deutsche Journalismus zu humanistischen freiheitlich demokratischen Tugenden und Vokabular zurück kehren können, wenn wieder einmal das Pack für freiheitlich-demokratische Verhältnisse von unten sorgt und sich die in der Geschichte in geradezu christlicher Tradition notorisch verräterisch andienende Journaillienschaft dem dann plötzlich wieder mächtigen Souverän als Mächtigen anschmeichelt. Dann endlich kann es nach Entnazifizierung und Entstasifizierung eine Entmerkelisierung der Medien geben, hoffentlich konsequenter als bei den Vorgängern.
        Amen

  • Ein "Land ohne Regierung" - am besten auch ohne Parlament (jedenfalls eines, wie wir es die letzten vier Jahre hatten) - fände ich für eine gute Weile (sagen wir: Eine Legislaturperiode) ganz in Ordnung:
    Es gibt genug Gesetze, alles ist irgendwie geregelt. Man muss nicht immer am Bestehenden herumwursteln, es genügt, einfach bestehendem Recht und Gesetz zu folgen. In vier Jahren könnte man dann mal schauen, ob vielleicht weitere vier Jahre 'Ohne' ganz gut wären - oder ob es irgendwo dringenden Handlungsbedarf gibt.

  • Etwas anderes als ein Teufel Lindner ist ab initio unmöglich, denn das passte nicht in unser alternativlos kritisches System.

  • Mein Gott, dass ich DAS noch erleben darf (Jahrgang 1953)! Welch eine Wohltat! Es tut sich etwas Neues auf im deutschen Medieneinheitsbrei: Journalisten, die doch tatsächlich die graue Masse zwischen ihren beiden Ohren autonom. kritisch und reflexionskompetent benutzt und nutzt! Allerherzlichsten Glückwunsch und ein möglichst langes "Überleben"!!!

  • Leider kann ich dem nur in Allem zustimmen. Lindner hat endlich die Reißleine gezogen, nachdem klar wurde, dass die Position der FDP und der grünen gar zu weit auseinanderliegen. Das hat im Übrigen auch Karin Göring- Eckarts in einem Interview der Tagesschau aufs Schönste erläutert, als sie kundgab, der Wahlkampf wäre ja von sehr weit auseinander liegenden Positionen geführt worden. Meiner Meinung nach haben die Grünen auch seither nicht erkennen lassen, dass sie auch nur von irgendeiner ihrer verbohrten Überzeugung abrücken. Vermutlich hatten sie schon die Dienstwagen bestellt und die Ministerposten unter sich aufgeteilt. Jetzt schlagen die gleichgeschalteten Medien auf die FDP ein, die sich der von der Kanzlerin gewünschten Schwampel verweigert. Dabei scheint kaum ins Gewicht zu fallen, dass die Grünen mit ihren sagenhaften achteinhalb Prozent der Wählerstimmen mit ihren Betonköpfen immer wieder versuchen, den Schwanz mit dem Hund wedeln zu lassen.

  • Leider kann ich dem nur in Allem zustimmen. Lindner hat endlich die Reißleine gezogen, nachdem klar wurde, dass die Position der FDP und der Grünen gar zu weit auseinanderliegen. Das hat im Übrigen auch Karin Göring- Eckart in einem Interview der Tagesschau aufs Schönste erläutert, als sie kundgab, der Wahlkampf wäre ja von sehr weit auseinander liegenden Positionen geführt worden. Meiner Meinung nach haben die Grünen auch seither nicht erkennen lassen, dass sie auch nur von irgendeiner ihrer verbohrten Überzeugung abrücken. Vermutlich hatten sie schon die Dienstwagen bestellt und die Ministerposten unter sich aufgeteilt. Jetzt schlagen die gleichgeschalteten Medien auf die FDP ein, die sich der von der Kanzlerin gewünschten Schwampel verweigert. Dabei scheint kaum ins Gewicht zu fallen, dass die Grünen mit ihren sagenhaften achteinhalb Prozent der Wählerstimmen mit ihren Betonköpfen immer wieder versuchen, den Schwanz mit dem Hund wedeln zu lassen.

  • Ein ansprechender Kommentar aktueller Begebenheiten, der das in Worte fasst was mir durch den Sinn ging.
    Viel Erfolg auf diesem Weg, der bei dem immer noch herrschenden Mainstream sehr steinig sein dürfte,
    Steine , die der Wahrheit, dem eigenen Denken, der geistigen Entscheidungsfreiheit, selbst der
    teilweise schon deutlich manipulierten Gedankenfreiheit in den Weg gelegt werden .

  • Alexander, wo warst du vor sieben Jahren, als Merkel den Bundestag belogen hat? Und wo waren und sind deine Kollegen? Wieso seid ihr alle so langsam? Ich habe mir neben Vollzeitjob, Kindern und Haushalt die Finger wund geschrieben. Jeden Tag ein Aufschrei. Bis die Polizei bei meiner Freundin auf der Matte stand. Angeblich hatten wir ein raubkopiertes Foto im Blog. Wie dem auch sei, ich genieße es natürlich, dass ihr Männer euch langsam aus der Deckung traut. Sogar Journalisten, wer hätte das gedach!t? Während ihr jetzt noch schnell euren Beitrag für die Freiheit leistet, schaue ich mir die ganzen Blögge an, die neuerdings wie eine aufgeregte Schafsherde durchs Netz blöken... so kurz vor dem Fall der Raute. Ganz großes Kino, Jungs! Danke, dass ihr die Reste wegräumt. Ich geh mich dann mal um meine Familie und meinen Job kümmern, ordne meine Papiere, frage meine Freunde, ob sie mich noch kennen. Der Sand, den ich mir nach verdammt harter und unbezahlter Arbeit abschüttele, ist der, in den Leute wie du Alexander, sieben Jahre ihren Kopf gesteckt haben. Da du dafür sicher königlich bezahlt wurdest, hast du natürlich das Recht, jetzt auch noch mal den Rahm abzuschöpfen. Tu mir aber bitte den Gefallen und knöpf dein Hemd zu wie ein Mann oder zieh kein Hemd an. (Beitrag gekürzt, Anm. d. Red.)

  • Ins Schwarze getroffen. Ergänzend: auch ARD- und ZDF- "Hauptstadt"-Journalisten haben in ihren Kommentaren eins gemeinsam: niemals kritisieren sie Merkel, immer aber Lindner. An Merkel stellen sie zur besten Sendezeit nur devote Fragen. Über die Verantwortungslosigkeit einer angeblichen Verhandlungsführerin erfährt das Volk nichts. Jeder CEO, der in einer kritischen Unternehmensphase solch chaotische Verhandlungen organisiert hätte, wäre längst fristlos entlassen. Erneut sehen Medien und Volk nicht, wo die eigentliche Verantwortung liegt: bei Merkel.