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Nicht mehr ihr Land

Die Zeit nach Merkel hat schon begonnen. Zuerst müssen die Trümmer beiseite geräumt werden

Auf dem Höhepunkt ihrer Machtvollkommenheit im Herbst drohte Angela Merkel ihrer Partei und mehr oder weniger auch den Bürgern mit Rücktritt, sollte sich Widerstand gegen die von ihr durchgesetzte Grenzöffnung erheben: “Dann ist das nicht mehr mein Land.” Es war tatsächlich ihr Land, nicht im Sinn einer tatsächlichen Bindung, sondern eben dieser Negativformel: im Bundestag keine Oppositionspartei, vom Versuch der CSU einmal abgesehen, Regierungspartei zu bleiben und irgendwie noch die Leerstelle des Widerparts auszufüllen. Praktisch keine Kritik in den Medien.

Dazu ein ganz breiter Unterbau von staatsgeldberieselten Organisationen, Gewerkschaften, Klerus und progressiven Künstlern, die daran arbeiteten, das Terrain rechts von der Kanzlerin mit einem antifaschistischen Schutzwall abzuschirmen. Selbst wer ganz bürgerlich nur nach der rechtlichen Grundlage fragte, auf der Merkel gerade das Land nach ihrem Bild umformte, geriet in ihr Sperrfeuer. Er war ein “Salonhetzer” (SPIEGEL-Autor Cordt Schnibben), dessen Worte “das Land anzünden” (SPIEGEL-Chef Klaus Brinkbäumer), er war ein “wunderlicher Nichtneger” (die Süddeutsche Zeitung).

Und plötzlich ist das Land ein anderes. Dazu genügte es erst einmal, dass der 38jährige Vorsitzende der FDP sich weigerte, alles für eine weitere Laufzeitverlängerung von Merkel IV zu tun beziehungsweise hinzubiegen.

Merkel hat das Land in zwölf Jahren geformt wie eine Eisplatte den Boden. Ihre Spuren und Endmoränen werden noch lange bleiben. Unter ihr haben sich weite Teile der Medien in Affirmationsmaschinen verwandelt, die politische Sprache zu einem Schaumteppich und Verfassungsfragen zum Spleen von uneinsichtigen Staatsrechtlern, die dem “Rad der Geschichte” (ja, Merkel benutzte diese Formel wirklich) in die Speichen zu greifen versuchten. Den Parlamentarismus hatte sie weit hinter das Kaiserreich zurückgeworfen. Seinerzeit, 1910, hatte der erzkonservative Abgeordnete Elard von Oldenburg-Januschau dekretiert: “Der deutsche Kaiser muss jeden Moment imstande sein, zu einem Leutnant zu sagen: Nehmen Sie zehn Mann und schließen Sie den Reichstag.” Januschau musste sich dafür tagelang vor wütenden Berliner Bürgern verstecken.

Merkel entkernte die parlamentarischen Debatten ganz ohne Leutnant: Mit Disziplinierung durch Dauererpressung, durch Verlagerung in informelle Zirkel, durch Brüsseler Nachtrunden und  – bei Atomausstieg und Grenzöffnung – autokratischen Entscheidungen an Verfassung und Legislative vorbei.

Seit September gibt es eine grundsätzlich oppositionelle Fraktion im Bundestag. Selbst wenn sie schlecht arbeitet, ist das Parlament mit ihr immer noch besser dran als vorher. Die meisten alten Medien ändern sich wahrscheinlich kaum. Aber es wachsen von unten neue nach. Möglicherweise wird es bald auch wieder politische Debatten geben, in denen Kritiker der EU, der grenzenlosen Migration, der kulturellen Homogenisierung nicht sofort mit Hypermoral überschüttet werden. Was für kühne Aussichten: Deutschland wird ein normales Land.

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Kommentare anzeigen (20)

  • Ich bin gespannt, wann die ersten CDU/CSU - Politiker auch öffentlich auf die Idee kommen, daß ohne Merkel und Kumpane eine Koalition von CDU/CSU, AfD und FDP nicht nur eine stabile Mehrheit, sondern auch gemeinsame Ziele hätte.

    • Natürlich, dies war mein erster Gedanke, warum keiner dieser rührigen Politiker der Altparteien gesagt haben, wir reden wieder zusammen, aber ohne Merkel, die muss erst weg, dann sind alle möglichen Wege frei und wir finden einen guten Kompromis, eine funktionsfähige Regierung zu finden, auch ohne den Langweiler BP Steinmeier, aber unter Beizug aller Parteien im Bundestag…

    • Haben Sie heute den Shitstorm der "Demokraten" im Bundestag einschliesslich CSU und FDP gegen die AFD wegen ihres Antrages "Rückkehr der Syrer in ihr Land erleichtern" verfolgt? Deshalb: das kann noch sehr sehr sehr lange dauern.

  • Treffend bemerkt :" das Terrain rechts von der Kanzlerin mit einem antifaschistischen Schutzwall abzuschirmen."
    Und noch sind die Qualitätsmedien in Hochform - fragt sich bloß wie lange. Die Aktion der FDP hat offenbar nicht nur mich (mich überaus positiv) überrascht.

    • Ich glaube, die meisten Deutschen müssen erst mal verinnerlichen, dass es ohne Merkel geht. Das wird in der nächsten Zeit passieren. Und dann wird es so sein, als wäre Merkel nie dagewesen. Bis auf die von ihr hinterlassenen Spuren.

        • Ein Castor ist ein Behältnis für eine längerfristige Zwischenlagerung. Wozu zwischenlagern? Um sie irgendwann herauszuholen und zu recyclen? - Nein danke!

    • Die Qualitätsmedien haben fertig, sobald eine kritische Masse sich weigert als "Wähler", "Steuerzahler", als Teil der "Zivilgesellschaft" oder als "Abgehängte" etc. hochnehmen zu lassen und der polit-medialen Klasse den Bürger selbstbewusst entgegenstellt.

  • Mein Wunsch ging in diese Richtung: Die FDP hat mit Frau Merkel noch eine Rechnung offen. Das Herr Lindner meinen Wunsch wahr gemacht hat, chapeau chapeau!

  • Hervorragender Artikel und eine tolle Formulierungskunst. Machen Sie so weiter, dann hat die Plattform glänzende Aussichten.

    • Dem schließe ich mich komplett an. Und: ♥lichen Dank, lieber Alexander Wendt. Wir brauchen so viele kritische Geister wie nur irgend möglich, die es auch noch schaffen, an die Öffentlichkeit zu gehen.
      Ich jedenfalls werde mich dem Irrsinn und dem Linksfaschismus in unserem Land nicht unterwerfen.
      Und das sagt eine (ehemalige) Linke und Feministin.
      Liebe Grüße
      Luise

  • Sehr geehrter Herr Wendt, ich bin durch andere "noch normal kritisch denkene Foren" auf Ihre Seite aufmerksam geworden und hoffe, es werden noch viel, viel mehr, denn es schlummert noch ein großer Teil der "schon länger hier Lebenden" Wähler von AM schlaftrunken gemacht. Täglich lese ich eine Reihe kritischer, Deutschland wohlwollender Meinungen, die mir trotz allem Ängste schüren, weil ich keine Lösung, keine Veränderung kommen sehe. Da kommen Sie daher und schreiben voller Optimismus "die Zeit nach Merkel hat schon begonnen"! Wenn ich meine Enkeltochter aus Köln abhole, fragt sie schon auf der Leverkusener Brücke: "Wann sind wir da?" - Herr Wendt: "Wann ist sie weg und wir sind wieder da?" Aber: noch im Sommer '89 habe ich nach meiner Flucht aus der DDR '88 Stein und Bein geschworen, daß dieses System ewig besteht, nachdem mir Personen , die internationalen Diplomaten nahe standen, versicherten, dass DDR-System "sei am Ende". Ich habe ihn für verrückt gehalten. Da hat es nur noch Monate gedauert bis November - darf ich auch jetzt hoffen? Mit besten Grüßen Holger Kremer

  • Bravo, Herr Lindner - endlich ein Politiker, der der Dampfwalze Merkel die Stirn bietet und den unertraeglichen Klageweibern der Gruenen samt ihrem aufgeblasenen Wichtigtuer Oezdemir.
    Peinlich die Bussiszenen zwischen Roth und CDU "Granden"; das erinnert an Schmierentheater.
    Auf nach Oesterreich!

  • Am Ende ist der sprechende Hosenanzug noch lange nicht.Hinter den kulissen wird eifrig dran gearbeitet die pöstchen zu erhalten,und zu vermehren.Mein Tip:Wiederauflage der GROKO.Dann können dich Kleber und Konsorten wieder in den warmen,mit Zwangsabgabe bezahlten Sessel zurücklehnen,und ihrer Kanzlerin (nicht meiner)zujubeln.Wären sich die Gutmenschen in den Rotweingürteln der BRD die Welt schön trinken,muß der sogenannte kleine Mann die Politik ihrer Kanzlerin bezahlen und aushalten.
    bin mal gespannt,wie lange das noch klappt?aber man hat ja schon vorgesorgt,mit Refugien im Ausland!

  • Leider bin ich mir gar nicht so sicher, ob wir das merkelsche Zeitalter bereits hinter uns haben

  • Eine unterdurchschnittliche Entourage in der Politik und ein harmoniebedürftiger Wähler, der (zu Recht) angst hat vor Verunglimpfung, sind das Kennzeichen der jetzigen Demokratie. Die Kneipentour des Journalismus ist bald vorbei, hoffentlich mit dem dementsprechenden Kater.

    Habe Mut, Deinen eigenen Verstand zu benutzen.
    Zitat: Kant.

  • Ausgezeichnet, Herr Wendt, ich bin so froh, mich als DDR sozialisierter Bürger, politisch in Ihrem Block wieder zu finden. Gut zu wissen, dass es noch Denker gibt, die den Wahnsinn der letzten Jahre der Merkelära so punktgenau zu analysieren in der Lage sind. Es kommt auch sicher nicht von ungefähr, dass der Gegenwind für Merkel besonders scharf aus dem Osten weht. Unsere Erfahrungen mit einer Diktatur und der dazugehörigen Nomenklatura machen uns besonders sensibel. Keine Frage habe ich allerdings bisher darauf gefunden, warum z.B. ich das erst so spät erkannt habe.