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Vier Meldungen und ein Trauerspiel

Rückblick spezial: Gibt es nach dem Fall Relotius eine Selbstbesinnung in den deutschen Medien? Die Art und Weise, wie sie über Ereignisse der letzten Tage schreiben, sagt etwas anderes

Muss Medienexegese sein? Ja, denn solange es Medien gibt, sagen sie etwas über Denksysteme und Sprache. Vier mediale Berichte über Gewalttaten Ende Dezember 2018 und Januar 2019 stehen als Material zur Verfügung. Keine Bange vor dem längeren Text. Später gibt es eine Art Pointe.

Die Meldungen:

• Am frühen Abend des 3. Januar 2018 zerstörte ein Sprengsatz die Schaufenster und Teile der Inneneinrichtung des AfD-Büros in Döbeln, außerdem zwei parkende Autos und ein Fenster des gegenüberliegenden Hauses. Die mutmaßlichen Urheber des Anschlags, drei Männer im Alter von 29, 32 und 50 Jahren, fasste die Polizei kurz danach. Zu einem mutmaßlichen Täter besteht im Bundeszentralregister ein Vorstrafeneintrag, zu den anderen nicht.

• Im bayerischen Amberg schlugen am 29. Dezember 2018 vier Asylbewerber im Alter von 17 bis 19 Jahren – drei aus Afghanistan, einer aus Iran – wahllos auf Passanten ein, und verletzten 12 Menschen.

• Am 31. Dezember fuhr ein Mann im Alter von 50 Jahren in Bottrop und Essen mit seinem Mercedes gezielt auf Menschen zu, und verletzte insgesamt acht. Unter den Verletzten finden sich mehrere Migranten, darunter mehrere Syrer. Der Fahrer gab bei seiner Verhaftung sinngemäß an, er habe mit seiner Tat Terroranschlägen von Ausländern zuvorkommen wollen, und machte allgemein einen verwirrten Eindruck. Andreas N. befand sich 2005 schon einmal wegen einer schizophrenen Erkrankung in stationärer Behandlung.

• Am Silvesterabend kam es in Cottbus zu einer Auseinandersetzung zwischen einer Gruppe Einheimischer und einer größeren Ansammlung Nichtdeutscher. „Nach jetzigem Ermittlungsstand zündeten die Südländer einen Feuerwerkskörper“, zitieren lokale Medien den Sprecher der Cottbusser Polizei Ralph Melcher. „Als dieser detonierte, erlitt ein 26-jähriger Deutscher vermutlich ein Knalltrauma. Daraufhin kam es zunächst zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen beiden Gruppen.“ berichtet Polizeisprecher Ralph Meier. Nachdem die Zahl der Ausländer rasch auf etwa ein Dutzend anwuchs, seien die vier Deutschen im Alter zwischen 18 und 26 Jahren mit Fäusten geschlagen und auch getreten worden. Rettungskräfte versorgten später die Verletzungen ambulant. Bevor die Täter unerkannt flüchten konnten, raubten sie einem 20-Jährigen noch dessen Rucksack. Ebenfalls in Cottbus hatte am Neujahrsmorgen ein als südländisch beschriebener Mann mit einem Messer auf einen Deutschen eingestochen, als der versuchte, einen Streit zu schlichten.

Soweit das Material. Um mit Döbeln zu beginnen: In einer ganzen Reihe von Medienberichten hieß es, es habe eine „Explosion“ vor dem AfD-Büro gegeben („Vor einem Büro der AfD in Döbeln haben Unbekannte einen Sprengkörper gezündet“). Spiegel Online, „Süddeutsche“ und andere vermieden auffälligerweise den Begriff „Anschlag“ beziehungsweise „Sprengstoffanschlag“. Die meisten Berichte betonten, die Hintergründe seien unklar, und verzichteten deshalb darauf, Zusammenhänge mit anderen Fällen zu konstruieren.

In einem ähnlichen, wenn auch weniger gravierenden Fall der Vergangenheit fiel die Terminologie deutlich anders aus. Als 2016 ein zunächst unbekannter Täter einen Böller in das geparkte Auto des Freitaler Linkspartei-Politikers Michael Richter warf, schrieben Medien durchgängig von einem „Anschlag“ oder „Sprengstoffanschlag“. In mehreren Berichten, etwa im „Tagesspiegel“, kam nicht nur Richter zu Wort sondern auch andere Linksparteipolitiker, die von Rechtsterrorismus sprachen und ausführlich auf andere Anschläge in der Vergangenheit und auch auf den NSU hinwiesen.

Nach dem Anschlag in Döbeln zitierten einige Medien nur kurz einen Vertreter der AfD – und einige gar nicht. Die „Süddeutsche“ und Spiegel Online ließen nur einen Politiker zu Wort kommen: den sächsischen SPD-Vorsitzenden Martin Dulig, der den Anschlag mit der bemerkenswerten Begründung verurteilte, er „helfe der AfD“.

Der Mitteldeutsche Rundfunk lenkte noch den Blick zwar zusammenhanglos – denn die Hintergründe sind ja bekanntlich noch unklar – aber dafür entschieden in eine bestimmte Richtung: „Die ländliche Region um Döbeln gilt als Hochburg der rechten Szene. Hier sind unter anderem die NPD und ‚der dritte Weg’ aktiv.“

Nun gab es Gründe für eine Zurückhaltung, was Spekulationen über Motive und mögliche Zusammenhänge mit anderen Taten angeht. Am Abend des 4. Januar wurden die nach wie vor tatverdächtigen Männer noch vernommen, anschließend auf freien Fuß gesetzt. Die Ermittlungen laufen.

Um auf den Fall des Freitaler Linkspartei-Politikers zurückzukommen: dort war der Terminus „Sprengstoffanschlag“ korrekt. Im April 2017 gestand der Freitaler Patrick F., aus rechtsextremen Motiven die Scheibe von Richters Auto eingeschlagen und einen illegal in Tschechien gebauten Böller zusammen mit einer Flasche, gefüllt mit Schwarzpulver und Kieselsteinen, in das Auto des Politikers geworfen zu haben. Bei dem Anschlag von Döbeln wäre der gleiche Begriff genau so gerechtfertigt gewesen, die Detonationswucht war hier sogar bedeutend größer. Es fällt ins Auge, wie unterschiedlich vor allem überregionale Medien in ihren Berichten über zwei ähnliche Anschläge in die Tasten griffen: einmal forte, einmal piano. Jedes Mal fügte sich die Tonalität perfekt in die sonstige Sachsen-Berichterstattung dieser Blätter ein.

Meldung zwei und drei – die Prügeltour der vier Asylbewerber in Amberg und die Amokfahrt von Bottrop – fassten etliche Medien in ihren Kommentaren zusammen. Die “taz” setzt dabei einen Ton, der sich so ähnlich auf Spiegel Online und in der „Süddeutschen“ wiederfindet:

„Während Bundesinnenminister Seehofer eine Schlägerei in Amberg zum Politikum hochjazzt, wird der rassistische Anschlag von Bottrop verharmlost.“ Das eine also eine „Schlägerei“, was suggeriert, es hätten auch andere auf die vier prügelnden Asylbewerber eingeschlagen. Was nicht der Fall war. Sie überstanden ihre Prügelattacken unbeschadet. Die Amokfahrt – über die man, siehe Döbeln, eigentlich schreiben müsste, die Hintergründe seien noch unklar – ist für die Redaktion in Berlin schon aufgeklärt: „ein rassistischer Anschlag“ (und nicht: „Auto fährt in Menschenmenge” ).

Constanze von Bullion schreibt fast identisch in der „Süddeutschen“:

„Zwei Gewaltausbrüche haben Deutschland zur Jahreswende aufgeschreckt, im bayerischen Amberg und im nordrhein-westfälischen Bottrop. Beide Male stehen Migranten im Mittelpunkt, mal als mutmaßliche Täter, mal als Opfer. Der Bundesinnenminister hat nun härtere Gesetze ankündigt – aber nur gegen zugewanderte Straftäter wie in Amberg. Im Bottroper Fall hingegen, wo ein Deutscher sein Auto als Waffe gegen Migranten eingesetzt hat, sieht der Minister keinen Anlass, härter zuzupacken als bisher. […] Aggressiver Fremdenhass spielt im Weltbild des Horst Seehofer eine nachgeordnete Rolle. […]”

Könnte aggressiver Fremdenhass möglicherweise gerade das Motiv der vier prügelnden Migranten von Amberg gewesen sein?

Aber zurück zu Frau von Bullion:

„Fälle wie in Amberg verbreiten Angst, weit über den betroffenen Ort hinaus. Das liegt nicht nur an der Furcht vorm fremden schwarzen Mann, die in ländlichen Regionen Deutschlands weiter verbreitet ist etwa als in Nachbarländern wie Frankreich oder Großbritannien. […] Hätten in Amberg blonde Oberpfälzer randaliert, kein Hahn hätte danach gekräht, und kein Geschäft wäre damit zu machen. […] Ob es aber in Amberg um solche Straftäter geht oder nur um eine ausgedehnte Wirtshausschlägerei, muss sich noch zeigen.“

Wir erfahren erstens: Die Furcht, Opfer einer Straftat zu werden, ist rassismusverdächtig, sofern man sich vor einer bestimmten Straftätergruppe fürchtet. Und zweitens: Bei der Amberger Innenstadt handelt es sich nach Erkenntnissen der “Süddeutschen” um ein ausgedehntes Wirtshaus. Schlagen vier Personen grund- und wahllos auf Passanten ein, dann handelt es sich, siehe auch „taz“, um eine „Schlägerei“. Wobei, darin besteht eine gewisse Übung: Als ein islamischer Attentäter 2014 drei Besucher des jüdischen Museums in Brüssel mit einer Maschinenpistole niedermähte, meldete die „Süddeutsche“ auf dpa-Basis eine „Schießerei“, und erwähnte einen „Mann“ (Die Begriffe „Anschlag“ und „Terror“ kamen auch hier nicht vor.)

Weiter mit der „Süddeutschen“ zu Bottrop:

„In Bottrop hat ein Deutscher sein Auto offenbar in Tötungsabsicht in Gruppen von Migranten gesteuert, mehrmals und nach Zeugenaussagen sogar noch im Rückwärtsgang. Der Tatverdächtige soll psychisch krank gewesen sein. Aber was unterscheidet derlei politischen Wahn von dem eines Anis Amri oder anderer Attentäter, deren mörderische Methoden in Bottrop kopiert wurden?“

Nun, praktisch alles. Bei Anis Amri handelte es sich um ein Mitglied einer größeren islamistischen Gruppe, er verkehrte in einer salafistischen Moschee in Berlin, plante seine Terrorfahrt und führte sie so aus, wie es Propagandaveröffentlichungen des Islamischen Staates empfohlen hatten. Der Amokfahrer von Bottrop war nicht nur wegen Schizophrenie in Behandlung, und seine Aussagen nach der Tat lassen auf einen Wahnanfall schließen. Es gibt bisher auch keinerlei Hinweise darauf, dass er zu einer Gruppe gehören würde, egal welcher Richtung.

Was dann bei Bullion folgt, schwenkt endgültig ins völlig Wirre ab:

„Horst Seehofer widmet Zuwanderungsproblemen seit Amtsantritt maximale Aufmerksamkeit. Auf Anfragen zu Fremdenhass dagegen, auch in ihm unterstellten Behörden, reagiert er regelmäßig zunächst abwehrend. So war es, als ein Mitarbeiter der Dresdener Polizei bei einer Pegida-Demo auf Presseleute losging. So war es, als Neonazis in Chemnitz randalierten. Oder als sächsische SEK-Beamte sich beim Einsatz mit dem Namen des NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt anmeldeten. Oder als gegen Frankfurter Polizisten wegen rechtsextremer Umtriebe ermittelt wurde.“

Die Mär, in Dresden sei ein LKA-Mann bei einer Pegida-Demonstration „auf Presseleute“ losgegangen, verdient sieben Punkte auf der zehnstufigen Relotius-Skala. Der LKA-Beamte, der dienstfrei hatte, forderte damals ein Kamerateam des ZDF auf, nicht sein Gesicht zu filmen, und da es unklar war, ob er sich schon auf einer Demonstration befand (wo Gesichterfilmen erlaubt ist) oder erst auf dem Weg dorthin (wo ein Recht am eigenen Bild existiert), ging es um einen Grenzfall. Der Mann erstattete bei Polizeibeamten Anzeige, die Beamten nahmen die Personalien der Journalisten auf, was sich 40 Minuten hinzog, weil sie zunächst ihre Ausweise nicht zeigen wollten. Aber das, wie auch alles andere, was Bullion aufzählt, spielte sich ausnahmslos im Bereich von Länderpolizeien und Länderjustiz ab. Seehofers Zuständigkeit in jedem einzelnen dieser Punkte liegt exakt bei Null. Neue oder andere Regeln bei der Abschiebung straffälliger Asylbewerber fallen dagegen in sein Ressort. Mit diesen Details kann sich eine Kommentatorin der “Süddeutschen” allerdings nicht aufhalten:

„Kein Wunder eigentlich, dass mancher Fremdenfeind inzwischen meint, die Sache mit den Flüchtlingen auf eigene Faust regeln zu können oder mit dem Wagen. Die Zurückhaltung des Bundesinnenministers wird da als Legitimation verstanden.“

Nicht nur besteht also für sie praktisch kein Unterschied zwischen einem psychisch kranken Amokfahrer, der acht Menschen verletzte, und dem Islamisten Anis Amri, der 13 tötete. Hinter dem Fahrer von Bottrop steckt auch – irgendwie – Horst Seehofer, weil er sich nicht zu mehreren sehr unterschiedlichen Vorkommnissen äußerte, die ausnahmslos mit seinem Ressort nichts zu tun haben.

Für Andreas Bocholte in „Spiegel Online“ ist die Prügelorgie von Amberg ebenfalls eine Marginalie, und Bottrop ganz klar rechtsextremer Terror:

„Dass Innenminister Seehofer das Asylrecht verschärfen will, ist nichts Neues. Dass er es allerdings nötig hat, einen eher marginalen Vorfall zu bemühen, um das neue Jahr gleich mit einer durch Betroffenheit kaum übertünchten politischen Offensive zu beginnen, ist nicht nur erbärmlich, sondern gesellschaftlich brisant. Denn es ist zugleich Symptom und Ursache eines Diskurses, der sich in den vergangenen Jahren in Deutschland gefährlich nach rechts verschoben hat. Was in dieser immer weiter nach rechts drehenden Spirale aus dem Fokus zu geraten droht, ist ein ‘Vertrauenssignal’ an jenen vermutlich tatsächlich mehrheitlichen Teil der deutschen Bevölkerung, der sich eher von rechtem Terror als von Asylsuchenden bedroht fühlt. Welcher Politiker mit ähnlich großem Mediengewicht wie Horst Seehofer fordert eigentlich angesichts von den Ereignissen in Bottrop schärfere Gesetze und eine härtere Gangart gegen Rechtsradikale?“

Es mag ja “vermutlich tatsächlich” – schon die Wortkombination ist ein Meisterstück, ebenso wie die “nach rechts drehende[n] Spirale” – es mag also einen Bevölkerungsteil geben, der sich auch nach den islamistischen Anschlägen vom Breitscheidplatz in Berlin (13 Tote), Hamburg (ein Toter), Ansbach ( 15 Verletzte) und in einem Regionalexpress bei Würzburg ( fünf Verletzte, davon vier schwer) und zahlreichen allgemeinkriminellen Straftaten von Asylbewerbern trotzdem mehr durch rechten Terror bedroht fühlt. Aber auch der SPIEGEL-Journalist beantwortet wie die Redakteurin der “Süddeutschen Zeitung” nicht die Frage, was genau er sich als „härtere Gangart gegen Rechtsradikale“ vorstellt. Vorbeugende Inhaftierung? Rechtsradikalismus ist ebenso wenig eine Straftat wie Linksextremismus. Oder die Erlaubnis zum Autofahren nur bei wöchentlicher polizeilicher und ärztlicher Kontrolle?

Für die Verurteilung des Amokfahrers von Bottrop und Essen wegen versuchten Mordes beziehungsweise Totschlags – falls er schuldfähig sein sollte – stehen die nötigen Gesetze zur Verfügung. Im Fall einer psychiatrischen Unterbringung wäre das Land Nordrhein-Westfalen zuständig, es gelten die dortigen Regeln. In beiden Varianten gäbe es keinerlei sachliche Zuständigkeit Seehofers, durch irgendeine Bundesgesetzänderung irgendetwas zu verschärfen oder überhaupt Einfluss zu nehmen.

Es ist interessant, auch hier einen Blick auf die mediale Behandlung einer anderen Amokfahrt zu werfen. Im Juni 2015 fuhr der gebürtige Bosnier Alen Rizvanovic mit seinem Geländewagen in Graz in eine Fußgängerzone systematisch auf Menschen zu, tötete drei (wobei er zwischendurch ausstieg und eine Frau erstach), und verletzte 103 Passanten. Die Polizei erklärte damals, es habe sich nicht um einen Terroranschlag gehandelt, sondern um die Tat eines geistig verwirrten Mannes. Rizvanovic erklärte später, er habe aus Wut über die Trennung von seiner Lebensgefährtin so gehandelt. Trotzdem erklärte kein großes Medium die Amokfahrt zu frauenfeindlichem Terror. Der Täter wurde später für schuldfähig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt. Aber es blieb bei der medialen Bewertung, in Österreich wie in Deutschland: keine Terrorfahrt, weil der Täter in geistiger Verwirrung handelte. Die Bewertung ist nicht unplausibel, gerade, wenn es um den Amokfahrer von Bottrop geht, der nachweislich wegen Schizophrenie in Behandlung war. Bei weitem nicht jeder Schizophrene ist gefährlich. Aber typisch für diese psychische Erkrankung sind gravierende Denkstörungen und Wahnvorstellungen. Typisch ist die völlige Abkopplung von der Wirklichkeit.

Von der vierten Meldung – Cottbus, Übergriffe zu Silvester und Neujahr – hätten die meisten Leser vermutlich nie etwas erfahren, hätte nicht der Sprecher der Stadt Jan Gloßmann auf Facebook geschrieben: „Sollte der oder die Täter hier noch ein Gastrecht genießen und kein unbeschriebenes Blatt sein, werden wir nicht zögern, ihm oder ihnen klarzumachen, dass er oder sie ein Ticket in die Heimat zu lösen haben.“

Das nahmen etliche Medien zum Anlass, um am Rand auch über die Ereignisse zu schreiben, hauptsächlich aber, um den Kommentar des Stadtsprechers zu skandalisieren: „Erklärung der Stadt Cottbus sorgt für Entsetzen“ (Frankfurter Rundschau)

Um mit dem Vokabular von “Spiegel Online” zu Amberg zu sprechen: Der Messerstich und die Schläge durch Migranten: ein marginaler Vorfall. Entsetzen beziehungsweise Berichtinteresse kommt erst auf, wenn ein Sprecher der Stadt etwas sagt.

In keinem der vier Fälle schaffen es die aufgezählten Medien, auch nur halbwegs sachlich und angemessen zu berichten. Die Ereignisse werden entweder heruntergedimmt oder aufgeblendet, es wird – außer im Fall Döbeln – schon kommentiert, es werden Parallelen zu anderen Fällen gezogen, bevor überhaupt der Sachverhalt geklärt ist. Es wird, je nachdem, weggelassen (in Döbeln das Wort „Anschlag“) oder evidenzfrei hinzugefügt (rechter Terror in Bottrop).

Schon vor und erst recht nach dem Fall Relotius stecken etablierte Presseorgane in einer Krise. Nach Relotius gab es die einen oder anderen Stimmen, etwa von ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo und dem designierten SPIEGEL-Chefredakteur Steffen Klusmann, das jahrelange Wirken von Claas Relotius nicht einfach als Einzelfall und punktuellen Betrug abzutun, sondern als Symptom einer Branche, die gerade dabei ist, sich selbst abzuwracken.

Ein Gegenmittel gegen den selbstverschuldeten Bedeutungsverlust könnte darin bestehen, die Benutzung des Wortes Anschlag künftig davon abhängig zu machen, was passiert ist, und nicht davon, ob das Anschlagsopfer einem politisch sympathisch ist oder nicht. Darin, zu schreiben – und zwar immer, wenn das zutrifft – dass die Hintergründe eines Vorgangs noch ungeklärt sind, statt zu spekulieren. Mit Begriffen wie „marginal“ vorsichtig zu sein, wenn zwölf Menschen verletzt wurden. Bei der Bewertung von Taten mutmaßlich psychisch Gestörter besonders zurückhaltend zu verfahren und mindestens die forensische Begutachtung abzuwarten, statt je nach Fall zu warten, was der Täter sagt, um aus ihm dann nach Bedarf einen psychisch gestörten Einzeltäter oder einen Rechtsterroristen zu machen, dem noch Horst Seehofer auf den Beifahrersitz fantasiert wird. Nützlich für die Medien wäre es, nur dann von Schägerei und Schießerei zu schreiben, wenn es tatsächlich zwei schlagende beziehungsweise schießende Parteien gibt. Es würde helfen, bei der Kritik an einem Politiker ein wenig darauf zu schauen, ob er für bestimmte Vorfälle und Missstände überhaupt zuständig ist. Und nicht zuletzt: eine gravierende Tat wie einen Messerstich wichtiger zu nehmen als einen Kommentar dazu. Vielleicht sollten Journalisten bei der Behandlung von Nachrichten außerdem das Wort “Narrativ” aus ihrem Begriffsvorrat streichen.

Die Frage ist: angenommen, Medienarbeiter würden ihre Misere erkennen – könnten sie überhaupt anders? Oder funktioniert der Griff in die Tastatur und die Wahl von fortissimo oder piano so reflexhaft, dass sie nicht mehr umlernen könnten?

Bis jetzt vollzieht sich der Niedergang der herkömmlichen Medien als Trauerspiel nach klassischem Muster: Der Protagonist geht seinen Weg sturheil bis zum Ende, obwohl die Umkehr für ihn nicht unmöglich ist.

Was, übrigens, ist das Ende?

Wenn sehr viele Medienschaffende derart ähnlich und voraussehbar schreiben – dann wird eine Software sie zügig verdrängen, schneller, als sie die nächsten zehn Meldungen umschreiben können.

Was sie können, kann ein Bot allemal. Und zwar billiger.

 

 

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Kommentare anzeigen (32)

  • Volles Einverständnis zu ihrem Text. Nur der Schlussfolgerung kann ich nicht zustimmen. Ehe die Relotiuspresse mangels Leserzuspruch ganz zusammenbricht, wird es eine steuerfinanzierte Lösung wie bei den öffentlich rechtlichen Medien geben. Dann werden die Bürger ihre Verdummung halt zweimal selbst bezahlen müssen.

  • Heribert Prantl sprach in einem Interview mit dem Deutschlandfunk (6-01-18) von Medialer Erregung nach Amberg „Es gibt eine Katastrophenpublizistik". Die Politik würde zu schnell reagieren.
    Diese Aussagen von Prantl zeigen deutlich wie der überwiegende Teil der Medien funktioniert.
    Amberg hatte nicht die Dimension der Silvesternacht 2015/16 von Köln. Doch wenn in einem kleinen Städtchen wie Amberg Menschen gejagt werden, muss darüber unbedingt berichtet werden.
    In Chemnitz mit dem bekannten Antifa-Video aber von "Hetzjaden" zu schreiben, entspricht dann schon eher der Prantl Aussage. Nicht zu vergessen, dass in Chemnitz ein Mensch am Stadtfest getötet wurde.
    Prantl ist im Dauerwerben für die Flüchtlingspolitik von Merkel fast täglich in irgendeiner Talkrunde zu hören. Er ist aber nicht Lobbyist irgendeiner Flüchtlingsinitiative sondern Chefredakteur einer größeren Tageszeitung. Hier wird die Einseitigkeit der Berichterstattung klar deutlich.
    Durch den Fall Relotius wurde zudem belegt, über was diese Medien berichten wollen und über was nicht.
    Der Verlust an Glaubwürdigkeit ist nicht wieder gut zu machen.

    • Heribert Prantl ist nicht Chefredakteur der SZ, er ist nur "Mitglied der Chefredaktion." Man beachte den Unterschied! ChRed ist der farblose Kurt Kister und noch irgendein anderer (ebenso unbedeutend). Prantl hat das ja bis heute nicht verwunden, dass ihn die neuen schwäbischen Eigentümer für diese herausgehobene Postion nicht genommen haben. Er dachte, er wird es ....

      • Danke für den Hinweis. Relotius ist wohl ansteckend...
        Da hätte ich vorher erst recherchieren müssen.

    • "Nicht zu vergessen, dass in Chemnitz ein Mensch am Stadtfest getötet wurde."
      Neben dem marginalisierten Toten von Chemnitz werden die weiteren Opfer völlig verschwiegen, sogar von Ihnen! Da wären die 2 durch Messerstiche Schwerverletzten, die Hinterbliebenen des Toten (Witwe und Kind, Eltern, Schwiegereltern), die Angehörigen der Verletzten sowie die sicher traumatisierten Begleiter(-innen) der Angegriffenen (als Zeugen der blutigen Tat). Zudem das erweiterte Umfeld (Freunde, Arbeitskollegen, Fanszene des CFC etc.), denen er bestimmt auch fehlen wird.
      Diese Tat zieht einen "Rattenschwanz" -blödes Wort- an Folgebetroffenen nach sich, und da reden wir noch nicht einmal von materiellen Aspekten wie Ausfall des (Mit-)Ernähers, evt. verminderte Arbeitsfähigkeit der anderen Betroffenen, fehlender Mitarbeiter beim Arbeitgeber, Kosten für das Sozialsystem etc.

      Es gibt aber noch einen anderen Grund, den Fall zu verwischen sowie einen Fake-Sturm über Nazi-Hetzjagden zu entfachen: Es gibt Fotos eines (mutmaßlichen) Täters mit PKK- und YPG-Devotionalien sowie in Uniform (als Peschmerga-Kämpfer). Diese Kräfte wurden ja von Deutschland unterstützt und ausgebildet -als demokratische Kräfte gg. den "Despoten Assad".
      Da stellt sich ja -fast schon zwingend- die Frage: Bietet die deutsche Regierung hier also wissentlich einen Rückzugsraum für gewisse "Kräfte"?
      Schon länger kursiert der Verdacht, daß die linke Szene Deutschlands für "handfestere" Aufgaben auf linksextreme kurdische Täter zurückgreift, die dann -im unwahrscheinlich Fall, doch mal erwischt zu werden- schnell vor dem Richter die "Rassismus"-Karte ausspielen können.
      Wieviele der "türkischen" Mörder deutscher Opfer sind eigentlich in Wahrheit Kurden?

      • Stimme Ihnen zu. Von den zwei schwerverletzten wurde auch nicht mehr berichtet. Wie geht es den zwei Begleitern von Daniel H. eigentlich?
        Die Medien beichteten aber von "Hetzjagden in Chemnitz". Der Mörder von Susanna aus Mainz zeigte sich auf Bildern auch als schwerbewaffneter Kämpfer der Kurden.
        Merkel und ihre Regierung unterstützt die Kurden im Nordirak mit Waffen. Die Türkei ist NATO-Partner bekam oder bekommt ebenfalls Waffenlieferungen (u.a. Leopard II) aus Deutschland.
        Somit wurden oder werden beide Seiten von Deutschland mit Waffen beliefert. Die Türkei führte eine Bodenoffensive in Nordsyrien im letzten Jahr durch. Weitere stehen in Planung. Für die meisten Medien ist dieser Widerspruch kein Thema.
        Für A. Merkel wären die christlichen Werte immer "Ausgangspunkt Ihres Handelns".
        so ein Statement von Ihr aus 2018.
        Das hier seitens der Kirchen niemand intervenierte, spricht nicht für die Glaubwürdigkeit der Kirchen in Deutschland.

  • Der um seinen Schreibtisch rotierende rasende Reporter Claas Relotuis hat im deutschen Medien-Urwald zahllose Brüder im Geiste sitzen.
    Einer schreibt vom anderen ab, der Prantl-Seppi immer voran, andere Schafe folgen dem Leithammel der Alpen-Prawda.
    Merke:
    Rechte Gewalt ist IMMER schlecht,
    linke Gewalt ist Ausdruck der richtigen Gesinnung!

    • werter Dreggsagg, schlimmer, linke Gewalt wird als "wehrhafte Demokratie" verklärt

  • Lieber Herr Wendt,
    Dank für die sehr genaue Analyse und Bewunderung, wie Sie es schaffen, dies in unaufgeregtem Stil und ohne hetzerische Polemik zu dokumentieren. Dies ist wirklich einzigartig in den mir überschaubaren Medien.
    Christoph Nielen.

  • Das Ende müsste zunächst einmal das Einstellen diverser Presseorgane sein. Presse wird von Menschen gemacht – welcher seriöse Journalist will denn seinen Ruf ruinieren, indem er in eine der heruntergekommenen Zeitungen oder Zeitschriften eintritt. Sicher ist damit das „Relotius“-Phänomen noch nicht gelöst – aber das Verschwinden von Spiegel, Zeit oder SZ wäre ein Schritt sichtbarer geistiger Hygiene, die auch mit den Interessen der Verleger konform gehen würde. Ich befürchte allerdings, dass bei sinkender Auflage die Bundesregierung eine GEZ-analoge „Lösung“ finden wird, um die „Qualitätspresse“ und die pekuniären Interessen der willfährigen Verleger zu retten. Der Schwindel dürfte sich weiter drehen. Es bleibt bei Aufklärung im unmittelbaren Umfeld. Gerade die unaufgeregte Art von Herrn Wendts Artikel erreicht noch jene, die bislang eher aus uninformierter Langeweile über das Treiben der genannten Blätter hinweg gesehen haben. Die Formulierung “vermutlich tatsächlich” ist nachgerade göttlich: das pseudointellektuelle Milieu bewegt sich auch existentiell im vagen Raum der hypothetischen Faktizität.

  • Wiederum eine beachtliche, für den öffentluchen Diskurs wertvolle Fleißarbeit von Ihnen, Herr Wendt, derer Sie sich angenommen haben und die zu tun, notwendig ist. Auch wenn vielen aufmerksamen Lesern von uns die windschiefe Art der Berichterstattung in den sog. deutschen "Qualitätsmedien" aufgefallen sein dürfte, ist es wichtig, die nicht immer einfach zu durchschauenden verbosen Machenschaften der Journaille mit selbst auferlegtem staatspädagogischem Auftrag zu entlarven und zu dokumentieren. Das schafft geistige Lufthoheit, Luft zum Atmen - im wahrsten Sinn des Wortes.
    Beim Spiegel-Online hab ich mehrfach in meinen Kommentaren darauf hingewiesen, dass man bisher nichts, aber auch gar nichts aus dem Fall Relotius gelernt hätte - im Gegenteil, dass Kommentarbeiträge einschlägig bekannter Schreiber geradezu in eine Jetzt-erst-recht!-Manie verfielen. Angesichts dieses, sich überschlagenden Irrwitzes ist es nur heilsam, kontrastierende Richtigstellungen in gemäßigten, abgewogenen Worten zu lesen. Danke dafür.
    Ihnen ein frohes, Licht erfülltes und für uns erhellendes neues Jahr,
    Albert Schultheis

    • @A.S.: "Beim Spiegel-Online hab ich mehrfach in meinen Kommentaren darauf hingewiesen, dass man bisher nichts, aber auch gar nichts aus dem Fall Relotius gelernt hätte"
      Was sind Sie denn für ein Träumer? Ich habe mein Spiegel-Abo 2014 (nach ca. 35 Jahren) gekündigt und fasse auch die Online-Version nicht mehr an, davon würde ich die Krätze kriegen!

      • Tranquilo, lieber Berger, ich habe mein Spiegel-Abo schon vor über 10 Jahren gekündigt, überfliege aber regelmäßig die Online-Version, um zu erfahren, wo der Feind steht.
        Allerdings: Es ist immerhin Spiegel-Online, die manche meiner Kommentare überhaupt noch zulassen, auch wenn sie sehr spiegelkritisch sind.

  • Klasse, wie hier die Meldungen dechiffriert und deren Autoren entlarvt werden.

    Ich als Normalo-Leser hatte beim flüchtigen Lesen der Zeitungen nur den Eindruck, da wird Meinung gemacht, konnte das aber nicht immer gleich fassen. Durch die sorgfältige Analyse des Herrn Wendt lerne ich, wie mit der Wahl der richtigen Trigger-Worte bis hin zu als Tatsache gemünzten Spekulationen Einfluss genommen wird. Ich denke, dass darf man als Demagogie bezeichnen.

    Zukünftig werde ich sehr viel aufmerksamer lesen.

  • Der Fall Relotius ist m.E. doch nur deshalb publik geworden, weil er zu diplomatischen Verwicklungen mit den USA führte, deren Botschafter die Berichterstattung kritisierte, nachdem sich US-Bürger über Falschdarstellungen und Verunglimpfungen in Relotius' Reportagen beschwert hatten. Anderenfalls wäre nichts passiert; speziell über die "Dunkeldeutschen" aus Chemnitz und Dresden darf die Journaille ja weiter ungestraft herziehen.

  • Nun, die Mitarbeiter von diversen Medien wissen genau, was sie tun: Die einen sind "Überzeugungstäter", die anderen kriechen um ihres Lebensunterhalts Willen auf den Schleimspuren der Vorgaben der ersteren.
    Es ist ein Irrglaube, dem viele nach wie vor anhängen, dass man als "Medien-Macher" und/oder "Medien-Mitarbeiter" NICHT GENAU WÜSSTE, was man tut (schreibt, kommentiert, fotomontiert etc.).
    Bereits in (gottseidank) vergangenen 1000jährigen Tagen hat man das, was zuvor noch nicht ganz so schlimm war, perfektioniert (und in der DDR hat man das unter anderem Vorzeichen fortgeführt). Nun hat es sich über Kohl-, Schröder- und zuletzt besonders über Merkel-Deutschland erneut ausgebreitet: Das Lügengewebe, das bereitwillig den Mächtigen (naja, sage ich jetzt mal so, eigentlich: den "Interessierten" allen) zuliebe und zupasse, über der jeweiligen Tatsache gesponnen und ausgebreitet wird. Dank denkender Menschen wird es immer wieder zerrissen. Leider bemerken es aber viele nicht. Die glauben. Selig sind die, die nicht wissen und doch glauben; ihnen wird das Reich Gottes! Na, mal sehen.