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Der Nazi unter den Viren

Corona und Kriegsende – daraus muss sich doch etwas machen lassen. Notfalls mit ein paar selbst gebastelten Engführungen. Eine kommentierte Presseschau der gleichsetzungswütigsten Beiträge zum 8. Mai

Von Oliver Driesen

 

Ausgerechnet im Frühjahr 2020 jährte sich die Befreiung vom Nationalsozialismus zum 75. Mal – während gleichzeitig das Coronavirus die Menschheit metzelte und Gedenkfeiern sabotierte. Das konnte kein Zufall sein. Die dunklen Zeichen zu dechiffrieren, blieb dem erprobten Bündnis von Deutschlands Journalisten, Experten und Politikern überlassen.

Wenn zwei Ereignisse sich gleichzeitig zutragen und dabei noch in einem willkürlichen Punkt eine Übereinstimmung aufweisen, dann haben Leitartikler und sonstige Zeitendeuter Feiertag. Denn dann besteht nicht nur Parallelität, sondern zwingend auch Kausalität. Es muss also einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen A und B geben, sonst würde sich beides ja nicht simultan zutragen.

Gerade Journalisten und Redenschreiber erliegen beim kleinsten Anlass unausweichlich dem Sirenengesang der Symbolik. Erst recht aber dann, wenn die beiden fraglichen Ereignisse globale Dimensionen haben – und beide auch noch mit Tod und Elend einhergehen. Das ist dann absolut unwiderstehlich.

Als es also zum 8. Mai 2020 den 75. Jahrestag des Kriegsendes zu betexten gilt, fällt den klügsten Köpfen in den Schreibstuben auf: Ausgerechnet jetzt? Ausgerechnet, während das Coronavirus weltweit schon fast 300.000 Menschen hingemordet hat und immer noch weiter wütet? Na, das werden wir in Grund und Boden analysieren! Oder wenigstens ein paar bedeutungsschwere Metaphern abgreifen.

Und so gehen sie ans Werk, sich dem historischen Anlass ebenbürtig zu zeigen. Niemand Geringeres als Volker Bouffier, hessischer Ministerpräsident, bringt bereits am 7. Mai den Ball mit einem Gastbeitrag für die FAZ ins Rollen: „Nachdem die Covid-19-Pandemie dabei ist, Deutschland, Europa und die Welt in die schwerste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg zu stürzen, benötigen wir deshalb für ganz Europa einen neuen Marshall-Plan, der mindestens ebenso groß denkt.“

Ebenso groß denkt wie wer? Wie der Denker des Zweiten Weltkriegs, also letzten Endes – der Führer? Oder meint Bouffier einen „neuen Marshall-Plan, der mindestens ebenso groß denkt“ wie Namensgeber George C. Marshall? Der hatte allerdings seit seinem Tod 1959 keine Pläne mehr geschmiedet. Folglich können sie auch schlecht nach ihm benannt werden. Eine semantisch rätselhafte Passage aus einem Text, der gleich nach Veröffentlichung auch aus anderen Gründen Kritik erntet.

Bouffier schreibt darin nämlich auch: „Nach der ‚Stunde Null‘ von 1945 befinden wir uns derzeit wieder in einer ‚Stunde Null‘.“ Was unter anderem den Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer auf den Plan ruft, der das Sachgebiet einmal studiert hat und heute in Berlin vergleichsweise wenige sowjetische Panzer durch zerbombte Straßen rollen sieht:

Aber man muss in Deutschland eben kein Geschichtskenner sein, um als Ministerpräsident oder sonstiger Influencer halbgare historische Parallelen publizieren zu können. Es reicht, katholisch zu sein. Oder „Trauerexpertin“ wie Eva-Maria Will. Das „Domradio“ aus Köln stellt ihr angesichts von Kriegsende und Hunderttausenden Corona-Toten gleich zu Beginn eines Interviews die minimal suggestive Frage:
„Drängen sich da nicht geradezu Parallelen zu der Zeit von vor 75 Jahren auf?“

Fachfrau Will springt aus dem Stand über das Stöckchen:
„Um gleich einmal das Stichwort Corona aufzugreifen: Seuchen wie Typhus und die Ruhr oder lebensbedrohliche Krankheiten wie Tuberkulose und Diphtherie waren natürlich nach Kriegsende 1945 ein großes Thema.“

Eine andere Art von Durchseuchung – jene mit braunem Gedankengut – liefert dank der Trauerexpertin auch endlich die überraschende Erklärung dafür, warum im Frühjahr 2020 überall Klopapier und Sterillium ausverkauft waren:
„Mich wundert es jedenfalls nicht, dass heute viele Menschen auf die momentane Krise mit einem besonderen Reinigungsdrang reagieren, dass sie Toilettenpapier und Desinfektionsmittel horten. Manche hoffen wohl, damit nicht nur äußerlich die Viren, sondern möglichst auch die alten Erinnerungen abwaschen zu können.“

Da wenden wir uns doch lieber der unschuldig reinen Farbe Weiß zu. Doch auch hier droht Metaphern-Infarkt. In München hisst die bayerische Landtagspräsidentin Ilse Aigner persönlich im Rahmen eines Kunstprojekts weiße Fahnen an der Westfassade des Maximilianeums, des bayerischen Parlaments. „Gerade weil Corona eine Lücke in unsere Erinnerungskultur reißt, ist dieses sichtbare Zeichen wichtig“, begründet Aigner. Wobei man sich fragen kann, ob ihre textile Corona-Ersatzhandlung landläufig auch wirklich als Zeichen unserer „Verantwortung als wachsame Demokraten“ wahrgenommen wird. Oder eben doch als weithin sichtbare Kapitulation des so geschmückten demokratischen Parlaments. Nur wovor? Vor den Amerikanern? Vor der Gefahr von rechts? Vor Corona? Da bleibt Raum für Interpretationen.

Den mit Abstand verschwurbeltsten, verschwiemeltsten Corona-Kriegsende-Vergleichssatz indes liefert bei den Gedenkwettkämpfen 2020 zuverlässig die Süddeutsche Zeitung: „Jene aber“, hebt Joachim Käppner in seinem Kommentar pastoral an, „die als halbe Kinder noch erlebten, wie das Nazireich in Blut und Feuer versank, fühlen sich in der Corona-Pandemie – die, ein böser Winkelzug der Geschichte, sie als Hochrisikogruppe bedroht – beklemmend nah erinnert an verweigerte Bürgerrechte, Mangelwirtschaft, Lebensgefahr, sogar an die Denunzianten.“

Ein Satz wie in Gelatine gemeißelt. Da ist alles drin: Drama, Nazis, Wahnsinn. Vor allem der „böse Winkelzug der Geschichte“, die ja bekanntlich ein Eigenleben führt und als Verwirrung stiftender Kobold immer dann auftaucht, wenn man am wenigsten mit ihr rechnet. Ganz besonders in Deutschland. Worin genau besteht allerdings diesmal ihr böser Winkelzug? Dass die Geschichte im Corona-Gewand die Hochrisikogruppe der Alten bedroht, die zur Nazizeit noch halbe Kinder waren? Ah, so! Oder nein, doch nicht. Nein, es ergibt einfach keinen erkennbaren Sinn.

Geradezu befreiend, um im Sprachgebrauch der Erinnerungskultur zu bleiben, ist da der reflektierte Umgang des „Neuen Deutschland“ mit den coronabedingten Verwerfungen. Zwar könne dieses Jahr nur ein „gebremstes Gedenken“ stattfinden, bedauert Wolfgang Hübner im ehemaligen Zentralorgan. Jedoch habe das auch sein Gutes, „weil uns auf diese Weise hohle Bekenntnisse von Leuten erspart bleiben, für die der 8. Mai nicht mehr ist als einer von vielen Anlässen zur propagandistischen Selbstdarstellung“.
Amen! Bzw.: Freundschaft!

 

 


Oliver Driesen ist Journalist und Buchautor in Hamburg. Er schreibt über gesellschaftliche und wirtschaftliche Themen.

 

 

Alexander Wendt: Weitere Profile:

Kommentare anzeigen (17)

  • Weiße Flaggen am Maximilianeum: Das Bayerische Parlament gibt auf. Führerin schwätze was du willst, wir folgen dir.

    • Endlich habe ich mit A. Wendt einen gleichwertigen Ersatz für Don Alphonso (Deus ex machina + Stützen derGesellschaft) von der WELT gefunden (bei der ich lebenslang gesperrt wurde).
      Das hier ist ja hammermäßig!
      Werde gleich eine Spende generieren.

      • Ja, daß es Publicomag gibt, empfinden viele medienheimatlos Gewordene als Segen und Trost.

        Ich kenne Don Alphonso noch aus seiner Zeit bei der FAZ. Dort wurde er - nachdem die FAZ die FR übernommen hatte und sich die Inhalte nun so änderten, als sei die Übernahme andersrum gelaufen - irgendwann wohl als sozusagen "untragbar" empfunden.

        Wenn man doch die GEZ-Steuer auf diejenigen Medien verteilen könnte, die man schätzt...! Hoffentlich kommt das bald mal. Bis dahin muß man eben, wie Sie schon erwähnten, zusätzlich honorieren.

        • Danke für die Antwort, werte @ Leonore. Don wurde bei der F.A.Z. auf Druck von Links abgelöst. Das hatte sich lange vorher angebahnt, weil seine Aufsätze - und vor allem die Kommentare seiner Leser nicht auf der Linie der merkelhörigen Presse und NGO´s war und sein Protegé Frank Schirrmacher ausgeschieden war. Dass er sich bei der WELT so lange hält, wundert mich ehrlich gesagt. Aber die WELT spielt gerade bei den Leserkommentaren eine scheinbare Liberalität vor. Vermutlich sind ihr massenhaft die Abonnenten von der Fahne gegangen. (bei der WELT firmierte ich übrigens zum Schluß mit "DdH"). Alles Gute Ihnen.

        • Don Alphonso hat in einem langen Artikel den Wechsel beschrieben und betont, dass er nicht "vertrieben" oder "entsorgt" wurde.
          Wenn Alphonso das selbst so schreibt, dann kann man das bitte erst Mal so akzeptieren. Weil es etwas widersinnig wäre, auf der einen Seite Alphonso als einen der letzten Kämpfer für Wahrheit & Rationalismus zu feiern und dann aber zu unterstellen, er würde bewusst Lügen.

  • Besser kann man die Unbildung der politischen Klasse und der Medienleute nicht beschreiben. Von ihrer Idiotie nicht zu reden. Ich will nicht behaupten, ich wäre viel gebildeter. Aber ich maße mir nicht an, ein hohes politisches Amt bekleiden zu wollen/tun oder bei einer großen überregionalen Zeitung Leitartikler zu sein/werden. -- "Wie in Gelatine gemeißelt...." gefällt mir sehr, ich habe mich schief gelacht. -- Danke!
    lg
    caruso

    • Wenn schon in Gelatine, dann bitte halal-also Rinder-Gelatine. Es könnte ansonsten zu Protesten der Neubürger kommen.

  • Ja, die offizielle deutsche "Erinnerungskultur".
    Da wimmelt es nur so von Mahnungen, Warnungen, Kranzniederlegungen, tausend Mal wiederholten Stereotypen und Betroffenheitsinszenierung.
    In diesem Jahr auch noch Corona!
    Das Virus ist für mancherlei gut, wie wir ja wissen: der Klimawandel hängt damit auch irgendwie zusammen, zumindest wenn es nach den jungen Damen aus gutem Hause von "FFF" geht.
    Moralische Buße und Läuterung. Madonna sagt angeblich auch, dass es so nicht weitergehen kann. Womit auch immer.
    Die "große Transformation" der "Wirtschaft" erlebt eine rasche Beschleunigung.
    Angela Merkel hat einen weiteren Frühling ihrer ewigen Kanzlerschaft erlebt und die Medienmitarbeiter verlieben sich neu in sie.
    Der Glaube an die unumstößliche Weisheit der von Regierung und handverlesenen Experten beschlossenen Maßnahmen gegen das Virus festigt erneut den Glauben der Gutdenker hierzulande.
    Die Gegner oder Skeptiker der Maßnahmen sind irgendwie auch "Nazi" und damit schließt sich der Kreis zum 8. Mai.

  • Das Befreiungsfestival muss gar nicht so süffisant karikiert werden, um den Eindruck bestätigt zu finden, dass es sich um ein verwirrtes Staatstheater handelt. Aber scharfe Rüge: Das Rührstück, das der Herr von Bellvederr vortrug, hätte eine Erwähnung Würdigung verdient. Immerhin erfüllte es jede Erwartung und vermied - wie immer - Originelles und Wahres. Mir ist noch das "Blutbad in der Synagoge" von Halle aus dem Mund unseres prächtigen Staatsobehauptes in den Ohren. Die Welt horcht auf: Deutschland ein menschen- und fremdenfeindliches, unbelehrbares Volk von Menschenjägern, Spinnern und Nazis. Ich schlage vor, einen "Tag der Beschimpfung" einzuführen. Schirmherr: Rainald Becker. Das deutsche Volk lässt sich gern beschimpfen, wenn es einem guten Zweck dient.

  • Sehr guter Artikel.
    FJ Strauss und Helmut Schmidt würden im Grabe rotieren, wenn sie die Statements der jetzigen Politpygmäen und Clowns lesen, bzw. hören würden. Und mir wird Angst und Bange, wenn ich an die Grün /Linken Geschwätzakrobaten denke. Ich würde mich sehr gerne geistig mit ihnen duellieren. Aber wie ich sehe sind sie alle unbewaffnet. Ein/e Politiker/in sind Wesen, die weniger und weniger von mehr verstehen, bis sie zum Schluß nichts von allem wissen ( Carlo Schmidt ). Oder um es mit Jesaja zu sagen:
    "Siehe, ihr seid nichts und euch zu wählen, ist ein Gräuel."!

  • Geht man davon aus, daß in der Politik nichts zufällig geschieht, muß man sich anläßlich der überlauten Corona- Kriegsrabulistik sehr ernsthaft Gedanken machen, welche Sauerei wieder ausgeheckt wird. Ebensowenig ist es Zufall, wenn beim lauten Ächzen über die Folgekosten die rote Enteignerszene sofort zur Stelle ist. Erfolgreich unter der Wahrnehmungsschwelle gehalten wurde bislang ein Papierchen des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags, in dem dieser die Möglichkeit eines neuen Raubzuges durchs Portemonaie der Bürger, eine "Vermögensabgabe" auslotet, wie sie in Schland zur Kriegsfolgenfinanzierung schon dreimal in den letzten 100 Jahren praktiziert wurde - das gibt Nonsenseformulierungen wie 'Krieg gegen das Virus', 'Stunde Null', 'unsichtbarer Feind' etc. einen tieferen Sinn, denn bislang gibt es nur die gesetzliche Möglichkeit, eine derartige Plünderung im direkten Zusammenhang mit Kriegslasten zu veranstalten. Da kommt doch der "Krieg gegen das Virus" wie gerufen...
    https://www.mmnews.de/wirtschaft/144470-kommt-die-vermoegensabgabe

  • "Ein Satz wie in Gelatine gemeißelt" - gratuliere, bisher erst 2 Hits in Google, beide von Autor Oliver Driesen.

    Allerdings gibt es schon: "Ein Satz wie in Styropor gemeißelt" (Jörg Schneider) [dort sind 3 Sätze angefügt: "Fick dich wer das liest", "We was here am 4. 9." und ein weniger philosophischer].

    Oder "»Ein Satz wie in Pudding gemeißelt!« kommentierte Manfred Idler in der UZ vom 16. September." (mit Bezug auf:"»Deutschland wird Deutschland bleiben.«).

    Oder: "Wie sagte einst der irische Schriftsteller Oscar Wilde: „Ich kann allem widerstehen, nur nicht der Versuchung.“ Ein Satz wie in Schokolade gemeißelt. Vielleicht auch in Pudding, Quark und Apfelmark." (Pressemitteilung von Sodexo).

    Oder: "“Er hat sich für das Projekt Hoffenheim entschieden, um nochmals einen sportlichen Kick zu erleben.“ Ein Satz, wie in Schleim gemeißelt, der in Frankfurt nicht nur bei Manager Hübner für eine böse Überraschung sorgt." (Stadionkurier, Eintracht-Archiv, 2013/4)

    Oder: "Ein Satz wie in Blootwoosch gemeißelt. OB Jürgen Roters schwärmt sofort von einem neuen „starken Partner“." (Kölner Express, 2014)

    Oder: ">damit nach dem Einbau durch ein Fachunternehmen keine weiteren Kosten > entstehen. ********** Ein Satz wie in Sand gemeisselt ;-)" (Haustechnikdialog.de)

    Oder: "Ein Satz wie in Knete gemeißelt." (Evelyn Finger, in "Die Zeit", 2007)

    Oder die Abwandlung: "»Kann von mir aus in Scheiße gemeißelt sein«, antwortete Greg und stocherte mit einer Selleriestange in seiner Bloody Mary herum." ("Ella Griffin")

    Also doch nicht ganz neu, trotzdem gut. Ich schlage noch vor: "Ein Satz wie in Grütze gemeißelt", aber das ist jetzt auch nicht mehr so kreativ.

    Neben "wie in Stein gemeßelt" kommen übrigens nach dieser Big-Data-Auswertung neben "in Stein" seltener die Variationen "in Marmor, in Granit, in Beton" vor.

  • In diesen absurden Zeiten ist die Empfehlung von Dushan Wegner, zurück in die Hinterhöfe, wohl nicht die schlechteste. Helge Schneider sagt auch, so nicht Freunde.

    Also, ich bin dann mal weg, mit Poppers Wälzer "Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde" unterm Arm. Diese Eselsohren müssen mal wieder ordentlich gestreichelt werden.

    Meine weiteren Buchempfehlungen sind:

    Albert Camus: “Der Mythos des Sisyphos”
    und
    Erich-Maria Remarque: “Der schwarze Obelisk”.

    Ganz schwarz-schwedisch sag ich dann mal - Ciao!