Publico https://www.publicomag.com/ Politik, Gesellschaft & Übergänge Sat, 16 Mar 2024 20:02:58 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.4.3 Zeller der Woche: fehlerfrei https://www.publicomag.com/2024/03/zeller-der-woche-fehlerfrei/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=zeller-der-woche-fehlerfrei https://www.publicomag.com/2024/03/zeller-der-woche-fehlerfrei/#comments Mon, 18 Mar 2024 06:00:27 +0000 https://www.publicomag.com/?p=18559 Der Beitrag Zeller der Woche: fehlerfrei erschien zuerst auf Publico.

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    Die neuen Linken und ihr flexibles Verhältnis zur Gewalt gegen Frauen https://www.publicomag.com/2024/03/die-neuen-linken-und-ihr-flexibles-verhaeltnis-zur-gewalt-gegen-frauen/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=die-neuen-linken-und-ihr-flexibles-verhaeltnis-zur-gewalt-gegen-frauen https://www.publicomag.com/2024/03/die-neuen-linken-und-ihr-flexibles-verhaeltnis-zur-gewalt-gegen-frauen/#comments Wed, 13 Mar 2024 16:00:37 +0000 https://www.publicomag.com/?p=18524 Schon eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn stehen Polizisten vor der Bayer-Niederlassung in Berlin in der Müllerstraße 178. Drinnen Ausweis- und Taschenkontrolle, Sicherheitsleute mit Knopf im Ohr.

    In einem Saal tief im Inneren des Verwaltungsgebäudes findet am Vortag des 8. März die erste Veranstaltung in Deutschland zu dem systematischen Terror der Hamas gegen Frauen statt, zu den Massenvergewaltigungen, Morden, Leichenschändungen, vielfach festgehalten in Videos, mit denen die Täter diesen ganz speziellen Teil des Massakers dokumentierten.

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    Schon eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn stehen Polizisten vor der Bayer-Niederlassung in Berlin in der Müllerstraße 178. Drinnen Ausweis- und Taschenkontrolle, Sicherheitsleute mit Knopf im Ohr.

    In einem Saal tief im Inneren des Verwaltungsgebäudes findet am Vortag des 8. März die erste Veranstaltung in Deutschland zu dem systematischen Terror der Hamas gegen Frauen statt, zu den Massenvergewaltigungen, Morden, Leichenschändungen, vielfach festgehalten in Videos, mit denen die Täter diesen ganz speziellen Teil des Massakers dokumentierten. Für die Sicherheitsmaßnahmen gibt es gute Gründe. Vor wenigen Wochen brüllte eine Islamogauchisme-Truppe an der Humboldt-Universität eine Diskussion nieder, weil auf dem Podium auch eine Vertreterin des Obersten Gerichts Israels saß. Das Thema des Abends im Wedding besitzt für diese Kampfeinheiten und ihre Verbündeten ein noch sehr viel größeres Provokationsniveau. Denn es zielt ins Zentrum des Komplexes aus Identitäts- und Genderlehre. Dass die Hamas-Krieger die Erniedrigung und Ermordung von Frauen am 7. Oktober methodisch einsetzten, dass sie ganz offensichtlich großen Wert auf Bilder davon legten, lässt sich auch im progressiven Lager kaum übersehen. Fast jeder erinnert sich noch an die Videoaufnahmen, die Bewaffnete der Hamas zeigten, als sie die Leiche einer fast nackten Frau wie eine Trophäe auf einem Pickup durch Gaza fuhren, im Schritttempo, damit möglichst viele der jungen Männer ringsum ihren Blick und ihr Handyfoto abbekamen.

    Als erste Gesprächsteilnehmerin der Veranstaltung in Berlin geht Chen Malka auf die kleine Bühne, eine 25-jährige Frau aus Jerusalem, die zusammen mit ihrem Freund zu den Besuchern des Supernova Musikfestivals gehörte, unter denen die Hamas ein Blutbad anrichtete. Beide konnten mit dem Auto von dem Gelände fliehen, hörten die Schüsse und Schreie, sie entkamen auf jener Straße, auf der viele andere Autofahrer nach ihnen erschossen wurden und oft zur Unkenntlichkeit in ihren Fahrzeugen verbrannten. „Das Festival“, sagt sie, „war der letzte Platz auf der Welt, an dem ich das erwartet hätte.“ Schon in den vergangenen Jahren gehörte sie zum Supernova-Publikum; den Rave in der Nacht bis zum Sonnenaufgang erlebte sie wie die anderen als kollektiven Rausch der guten Gefühle. Viele Freunde und Bekannte, so Malka, hätten nicht mehr fliehen können. Sie weiß, dass viele Opfer nicht nur einfach erschossen, sondern vorher vergewaltigt und verstümmelt wurden.

    Auch die anderen, die nach Malka oben Platz nehmen, sprechen sehr direkt über die Grausamkeiten. Zwei von ihnen beschäftigen sich beruflich mit sexualisierter Gewalt und der Betreuung von Opfern. Wie schon erwähnt: Bis zu dieser Veranstaltung fand in der Bundesrepublik kein Forum speziell für die sexualisierte Gewalt der Hamas statt. Trotzdem bleiben in dem nicht allzu großen Raum etliche Plätze leer. Die Organisation des Forums „Sexualisierte Gewalt der Hamas am 7. Oktober“ lag in den Händen von vier privaten Organisationen – der Jüdischen Werteinitiative, der Axel Springer Freedom Foundation, dem Verein „Frauen für Freiheit“ und dem American Jewish Committee Berlin – die sich nach Kräften bemühten, den Termin öffentlich bekannt zu machen. Dass der Abend auf Englisch stattfindet, dürfte eigentlich auch keine größere Barriere darstellen, schon gar nicht im großen progressiven Teil der Stadt, der alle Begriffe und weltanschaulichen Versatzstücke aus der Anglosphäre übernimmt. Vor allem mangelt es in Berlin wirklich nicht an potentiellem Publikum. Es gibt vermutlich keine zweite deutsche Metropole mit derart vielen staatlich geförderten Organisationen auf dem weiten Feld von Gender und Empowerment von Frauen, von der Förderung von Gründerinnen bis zum bezuschussten lesbischen Wohnprojekt. Der Kampf gegen das Patriarchat ruht hier nie; ein ganz neues progressives Vorhaben befasst sich damit, der Übersexualisierung von Frauen in der Musikindustrie den Boden zu entziehen. Berlin begeht außerdem wie Mecklenburg-Vorpommern den 8. März als staatlichen Feiertag – anders als die restlichen 14 Bundesländer.

    All die Gleichstellungsbeauftragten, frauenpolitischen Sprecherinnen, Gender-Projektmacherinnen, Netzfeministinnen und themenspezialisierten Journalistinnen der Hauptstadt hätten nicht nur mühelos den Raum von Bayer füllen können, sondern auch das Tempodrom. Soweit es sich erkennen lässt, sitzt in dem Raum des Bayer-Hauses allerdings niemand aus diesem Spektrum, auch kein Vertreter der Hauptstadtpresse. Und das, obwohl selbst die in diesen Kreisen breit als Autorität anerkannte UNO fünf Monate nach dem Massaker des 7. Oktober 2023 offiziell feststellte, es gebe „berechtigte Gründe zur Annahme, dass es dabei zu sexualisierter Gewalt gekommen ist“. Das konnte zwar schon damals jeder sehen, der sich die von der Hamas ins Netz gestellten Videos zumuten wollte. Von außen betrachtet erscheint die Minimalformulierung der Vereinten Nationen als winziger Schritt, sie bedeutet allerdings einen großen Sprung für eine Organisation, in deren Menschenrechtsrat seit 2023 ein Repräsentant Saudi-Arabiens eine herausgehobene Funktion besetzt. Jedenfalls existiert eine offizielle Bestätigung, die sich selbst bei größter Anstrengung schlecht als israelische Propaganda zurückweisen lässt. Aber auch ohne diese Wortmeldung müsste es bei den Vorkämpferinnen des in Berlin fest verankerten Feminismus der zweiten Welle Interesse und Unterstützung für die Veranstaltung geben, denn auch für diesen mit Identitätspolitik und Transgender-Themen verkoppelten Feminismus gelten nach eigenem Verständnis die Prinzipien, erstens Gewalt gegen Frauen generell anzuprangern, egal, wo sie stattfindet und von wem sie ausgeht und zweitens weiblichen Opfern grundsätzlich zu glauben. Gegen diese zweite Forderung lässt sich zwar viel einwenden, da sie keine Unschuldsvermutung kennt. Die massenhaften Grausamkeiten des 7. Oktober, um die es an diesem Abend geht, zeichneten die Täter allerdings selbst auf, um die Bilder anschließend in die Welt zu schicken.

    Nach der Veranstaltung sagt Rebecca Schönenbach, Vorsitzende des Vereins „Frauen für Freiheit“, die den Abend mitorganisierte, einige feministische Organisationen in Berlin hätten es ausdrücklich abgelehnt, auf den Termin hinzuweisen und zwar mit der Begründung, er widme sich einseitig der israelischen Perspektive.
    Eine ganz ähnliche Erfahrung machten auch andere, beispielsweise Theresa Serber, Sprecherin des linken Bündnisses „Feminism unlimited“, die in einem Interview die Ablehnung beklagt, die ihr aus der Szene entgegenschlug, weil die von ihr organisierte Demonstration zum Frauentag auch die Brutalität der Hamas zum Thema machte. „Wir sind enttäuscht“, meinte Serber, „bitter enttäuscht von feministischen Gruppen in Berlin, die die patriarchale Gewalt der Terrororganisation Hamas gegen Frauen in Israel am 7. Oktober entweder nicht thematisieren oder sie sogar als Propaganda einordnen oder schlimmstenfalls die Vergewaltigungen als antiimperialistischen Widerstand feiern.“ An einer anderen Stelle diagnostizierte sie eine „innerlinke Spaltung“.

    Damit trifft sie den Punkt: An dieser Bruchstelle zerlegt sich gerade nicht nur der Feminismus, sondern die westliche Linke insgesamt. Eine Figur steht für diesen Zerfall wie keine andere: Judith Butler. Bei der Diskussion im Berliner Bayer-Haus spricht zwar niemand ihren Namen aus. Aber jeder weiß, wie sich die Patin aller Genderlehrstühle ein paar Tage vorher bei einer Veranstaltung in Paris zum Terror des 7. Oktober in einer Art ex-cathedra-Erklärung äußerte: Es habe sich zweifelsfrei um „bewaffneten Widerstand“ (“armed resistance“) gehandelt.

    In dem gleichen Monolog stellte sie in Frage, ob es überhaupt Vergewaltigungen israelischer Frauen durch Terroristen der Hamas gab: „Ob es nun eine Dokumentation für die Behauptungen gibt, die über die Vergewaltigungen von israelischen Frauen aufgestellt worden sind, ok, wenn es eine Dokumentation gibt, dann bedauern wir das, aber wir wollen eine Dokumentation sehen.“ (“Whether or not there is documentation for the claims made about the rape of Israeli women, ok, if there is documentation then we deplore that, but we want to see that documentation.“)

    Das stellt selbst für Butler eine bemerkenswerte Steigerung dar. Sie hatte schon 2006 bei einem öffentlichen Auftritt in Berkeley selbst das formale Bekenntnis zu emanzipatorischen Ideen demonstrativ auf den Müll geworfen, als sie sowohl die Hamas als auch die Hisbollah ohne jede Einschränkung zu „linken Bewegungen“ erklärte. Unmittelbar nach dem 7. Oktober veröffentlichte die London Review of Books einen langen mäandernden Text von ihr, in dem sie versuchte, zumindest eine Halbdistanz zu den Gewalttaten der Hamas und dem Jubel darüber an amerikanischen Universitäten herzustellen. Die Erklärung von Harvard-Studenten, die Israel exklusiv für das größte Pogrom seit 1945 verantwortlich machte, nannte Butler einen argumentativen Fehler, außerdem verurteilt sie den Angriff als „schreckliches und abstoßendes Massaker“. Danach rutschte sie wieder in ihre eingeschliffene Spur, prangerte Israel als „postkoloniales Projekt“ an und benutzte den Begriff ‚Besatzung‘ als Chiffre für die Existenz des jüdischen Staates überhaupt. In Paris 2024 fiel ihr nur noch ein kleiner obligatorischer Halbsatz ein, den ihre Anhänger brauchen, um sie zu verteidigen: „Ich mochte das nicht“ – womit sie den bewaffneten Widerstandsakt der Hamas meinte. Sie sprach über die Vernichtung von etwa 1200 Menschen also mit einer Wendung, als ginge es um einen unbefriedigenden Theaterabend. Eigentlich bedeutete ihr Einschub nur: Ich will mir so etwas wie am 7. Oktober in Israel nicht persönlich ansehen müssen.

    In der Diskussion, die auf das Gespräch mit Chen Malka folgte, sagte Rebecca Schönenbach: “rape is no resistance“. Vergewaltigung ist kein Widerstand. Dass dieser Satz überhaupt ausgesprochen werden muss, sagt etwas über das Berlin das Jahres 2024, und zwar weit über die Bemerkung an sich hinaus. Wohlgesinnte Gefolgsleute Butlers, Robin DiAngelos und anderer Anführerinnen verfügen zwar grundsätzlich über das Handwerkszeug, um alles und jedes zum Konstrukt und zur Frage des Standpunkts zu erklären. Aber wenn es darum geht, auch ganz frontal Vergewaltigung zum Widerstandsakt zu deklarieren, solange ihn nur die Richtigen begehen, reicht die Umdeutungskraft des Milieus wahrscheinlich doch nicht ganz aus. Jedenfalls nicht in einem Raum, in dem auch eine junge Jüdin sitzt, die am 7. Oktober ganz knapp einem solchen Schicksal entwischte. Außerdem mehrere Experten, die Gewaltopfer und deren Angehörige professionell betreuen. Das erklärt, warum sich hier im Berliner Wedding keine Vertreter des Zweite-Welle-Feminismus einfanden, warum sich Vereine weigerten, auf die Veranstaltung aufmerksam zu machen und warum die mediale Resonanz des Forums sehr bescheiden ausfiel. Ein großer Teil des progressiven Lagers reagierte auf die Veranstaltung offensichtlich mit dem Butler-Satz: Ich mag es nicht. Schon vor einigen Monaten antworteten drei Präsidentinnen von amerikanischen Eliteuniversitäten bei einer Kongressanhörung auf die Frage, ob sie den Aufruf zum Mord an Juden auf ihrem Campus als harassment, als Belästigung anderer Studenten ansehen würden, mit: Das kommt auf den Kontext an. Genau das gilt im neoprogressiven Lager jetzt auch für Gewalt gegen Frauen: kommt ganz darauf an, von wem sie ausgeht und wen sie trifft.

    Zur Gesprächsrunde auf dem Podium gehörte Yael Sherer, die in Israel vor Jahren die „Survivors of Sexual Violence Advocacy Group“ gründete, eine Organisation, die Missbrauchsopfer berät. Der 7. Oktober 2023 änderte auch Sherers Leben völlig. Sie arbeitet seitdem daran, an den Tatorten Opfer zu identifizieren und zu dokumentieren, unter welchen Umständen sie starben. Es gebe nur sehr wenige vergewaltigte Frauen, sagt Sherer, die über ihre Vergewaltigung sprechen könnten und zwar aus einem einfachen Grund: „Fast alle, die vergewaltigt wurden, wurden auch umgebracht.“ Die Augenzeugenberichte stammen deshalb fast ausschließlich von Israelis, die sich auf dem Gelände des Supernova Festivals oder in den überfallenen Kibbuzim irgendwo verstecken konnten. Und natürlich existieren forensische Untersuchungen der Opfer. Sherer zeigt grundsätzlich keine Bilder, wenn sie über ihre Arbeit spricht. Aber diese Bilder existieren. Außerdem sprechen auch andere Mitarbeiterinnen des Untersuchungsteams über ihre Erkenntnisse.

    Sexualität spielte für die Gewaltakte bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Ihr zentrales Motiv hieß: exemplarische Vernichtung. Die Untersuchungsteams fanden eine große Zahl von Leichen mit verstümmelten Genitalien, mit gebrochenen Becken, entstellten Gesichtern. Jan İlhan Kızılhan, ein anderer Teilnehmer auf dem Podium, Psychologe mit Spezialisierung auf Traumatologie, außerdem auch promovierter Orientalist, wies darauf hin, dass nicht nur erwachsene Frauen vergewaltigt und anschließend getötet wurden, sondern auch Mädchen ab etwa neun Jahren. Kızılhan hatte sich auch mit der Gewalt von IS-Mitgliedern gegen Kurdinnen und Jesidinnen befasst. „Die Täter“, sagt er, und das gelte für die des IS genauso wie für die Hamas-Truppen, „weisen keine pathologischen Störungen auf. Ihre Ideologie erteilt ihnen ausdrücklich die Erlaubnis für die Grausamkeiten. Sie empfinden das, was sie tun, als völlig normal.“ Damit beschreibt er den grundsätzlichen Unterschied zwischen der realen Hamas und der Konstruktion einer Judith Butler und anderer Westler, die den Terrorapparat aus dem Gazastreifen als progressive und „antikoloniale“ Bewegung in ihr Raster einsortieren. Selbst Butler geht nicht so weit, die systematischen Vergewaltigungen direkt abzustreiten. Ihr Subtext lautet: Es handelt sich um bedauerliche Randerscheinungen.

    Aus Sicht der Hamas selbst steht die Erniedrigung und Auslöschung der Juden allerdings im Zentrum ihres Krieges. Für sie versteht es sich schon von selbst, dass Frauen ihrer eigenen Ethnie auf einer niedrigeren Stufe stehen. Ungläubige Westler gelten als minderwertiger, Juden noch geringer. Jüdische Frauen mit einem westlichen Lebensstil fallen also gleich in drei Verachtungskategorien. In einem Gespräch nach der Veranstaltung weist Kızılhan darauf hin, dass die Hamas zwei Kommunikationsstrategien parallel verfolgt: „Innerhalb ihrer eigenen Community werden die Videoaufnahmen mit Stolz verbreitet. Gegenüber der Öffentlichkeit im Westen streitet man die Grausamkeiten entweder ganz ab, oder man spielt sie herunter.“

    Sherer sagte in der Runde auch, natürlich sehe sie das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung. Nur führt eben nichts an der einfachen Wahrheit vorbei: Ohne den Angriff der Hamas am 7. Oktober würden die 1200 israelischen Zivilisten noch leben und es gäbe die tausendfachen zivilen Opfer im Gazastreifen nicht.
    Der Riss im linken Lager zwischen den Traditionsfeministinnen und den vorgeblich progressiven Erwachten existierte schon vor dem 7. Oktober 2023. Jetzt allerdings handelt es sich nicht mehr nur um einen Riss, sondern um einen tiefen Bruch bis in den Grund. Hier trennen sich gerade zwei Welten. Nach einer vermutlich überholten Statistik steht Berlin mit 36 Genderprofessuren bundesweit auf Platz zwei, gleich hinter Nordrhein-Westfalen. An den Hochschulen der Hauptstadt existieren mehr Genderlehrstühle als in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen zusammen. Alles, was die Verantwortlichen dort und an hunderten anderen Fakultäten im Westen unterrichten, geht in irgendeiner Weise auf das von Judith Butler errichtete Überzeugungssystem zurück.

    Nach Butlers Auftritt in Paris meldete sich keine ihrer Adeptinnen mit einem Widerspruch. Noch nicht einmal mit einer Distanzierung. Vermutlich auch deshalb, weil eine Halbdistanz wenig Sinn ergibt. Wie in allen Lehren mit totalem Welterklärungsanspruch bietet sich nur die Möglichkeit an, ganz mit ihr zu brechen – oder auf dem gleichen Pfad immer weiter zu marschieren. In der Welt der Erwachten, der Regressiv-Progressiven herrscht eine strikte thematische Hierarchie. Der Kampf gegen den Westen, den Kapitalismus, gegen vermeintliche Spuren „kolonialer Praktiken“ übertrumpft alles andere. Frauenrechte spielen in diesem Überzeugungssystem nur dann noch eine Rolle, wenn sie der strategischen Stoßrichtung nutzen. In dieser Bewegung gibt es für den Feminismus der alten Sorte sowieso keine Verwendung, aber auch für den neuen bleibt immer weniger Raum, zumindest für die Fraktion, die neben aller Aufteilung in westliche Unterdrücker und nichtwestliche Opfer versucht, sich noch irgendwie an dem Begriff Frau festzuklammern. Die Avantgarde der Erwachten arbeitet gerade daran, auch diese Kategorie abzuräumen. Ihre neueste Kreation, die es 2024 auch schon vereinzelt auf Demonstrationsschilder am 8. März schaffte, lautet: „Gender is a scam.“ Das bedeutet selbstredend nicht, dass die Parolenverbreiter die Genderlehre beziehungsweise das Gendern für Schwindel halten, sondern die Geschlechtskategorien Mann und Frau, ganz besonders aber ‚Frau‘.

    Seit einiger Zeit steht in diesem Milieu schon ‚female‘, also ‚weiblich‘ auf dem Index, auch ‚Mütter‘ und weibliche Personen werden bekanntlich nur noch ‚als Frau gelesen‘. Daraus musste früher oder später die logische Konsequenz folgen, Frauen als irgendwie objektiv begründete Erscheinungen per Definition ganz auszutilgen.

    Hier verläuft übrigens noch eine zweite Bruchkante, die sich nach dem 7. Oktober selbst innerhalb des Progressivismus nicht mehr übersehen lässt. Egal, wie viel Mühe sich Butler und andere geben, die Hamas als linkes beziehungsweise postkoloniales Projekt anzupinseln: In der Truppe des Yahya Sinwar gibt es niemanden, der Geschlechter für ein Konstrukt hält und glaubt, es gäbe davon mehr als zwei. Gerade bei ihrem Vorgehen am 7. Oktober demonstrierten die Männer der Hamas, dass sie nicht erst lange lesen müssen, um beide voneinander zu unterscheiden.

    Die mediale Aufbereitung des 8. März in Deutschland zeigt, wo die Bewegung der Wohlgesinnten in diesem Land ungefähr steht. Beispielsweise hätte sich eine Berichterstattung über die Veranstaltung zur Gewalt der Hamas angeboten, ein Interview mit Chen Malka, mit Yael Sherer oder beiden. Die meisten Medien ignorierten die Besucher aus Israel ganz; das zum RBB gehörende Radio Eins sprach zwar mit Malka und sendete ein Stück zum 8. März – allerdings kein Interview. Stattdessen berichtete eine RBB-Journalistin einer anderen, wie es für sie war, Malka zu treffen.
    Die junge Frau aus Jerusalem kam nur mit zwei raspelkurzen Soundbites zu Wort, die israelische Frauenrechtlerin Miki Roitman mit wenigen Sätzen. Gut achtzig Prozent der Sendezeit füllen die deutschen Journalistinnen damit, dass die eine die andere befragt. Chen Malka, meinte eine von ihnen, habe natürlich ausführlicher über ihre Erfahrungen berichtet. „Aber wir haben uns entschieden, sie nicht zu erzählen.“ Was gab es medial sonst noch zum Frauentag? Der Stern interviewte zum 8. März einen biologischen Mann zum Thema Frauentag und Feminismus, nämlich Georgine Kellermann. Luisa Neubauer stellte erwartungsgemäß den sexistischen Charakter der Klimakrise fest.

    Im Spiegel widmete sich eine Autorin anlassbezogen dem Phänomen der „Mikro-Misogynie“.

     

    Die Frankenschau der ARD wiederum erfreute ihr Publikum zum 8. März mit einem Bericht über einen „bunten Jahrmarkt nur für Frauen“, zu dem auch eine Art Gehege gehörte, in dem weiblich Gelesene mit sogenannten Schwimmnudeln auf Plastikpenisse einprügeln durften. Die Einspielszene zeigt eine Person in Funktionskleidung, die einen Wackelphallus mehrfach trifft und dazu ruft: „Für Söder, für die AfD.“ Eine Reporterin kommentiert aus dem Off: „Bei so viel Frauenpower geht den aufgeblasenen Männern schnell die Luft aus.“ Das stimmt zwar nicht. Trotzdem kippt die Stimme der Frankenschau-Schaffenden beinahe über vor Begeisterung.

    Die FAZ verzichtete zwar wie die meisten Medien, etwas über die Veranstaltung im Berliner Bayer-Gebäude zu schreiben. Aber ihr Redakteur Patrick Bahners trug immerhin etwas zum Komplex Judith Butler und Vergewaltigungen in Israel bei, wenn auch nur auf X, vormals Twitter, denn er zählte zu den ganz wenigen Journalisten, die sich ausdrücklich für die Patin des Genderismus in die Bresche warfen: „Sie bleibt konsequent in einem politischen Realismus, der ethischen Streit ermöglicht und nicht vorab für gegenstandslos erklärt. Sie ist eben eine Philosophin.“
    Auch für einen Bahners gibt es noch Potential. Vielleicht erörtert er zum ersten Jahrestag um den 7. Oktober 2024 in einem ethisch-philosophischen Text, wie die Hamas-Krieger ihren Angriff damals durchgehalten und es dabei geschafft hatten, abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen anständig geblieben zu sein. Wenn jemand das Zeug zu einem solchen Aufsatz besitzt, dann er.

    Wohlgesinnte Medien und Organisationen hätten sich zum 8. März, aber auch unabhängig davon mit einem Phänomen in Westeuropa beschäftigen können, das eindeutig nicht in die Rubrik Mikro-Misogynie passt, das sich auch nicht mit Söder, der AfD oder dem Klima verknüpfen lässt, aber im erweiterten Sinn durchaus mit dem 7. Oktober 2023 in Israel. In einem Teil Europas finden Ereignisse statt, die es vor zehn, fünfzehn Jahren so nicht gab und die sich damals auch niemand als serielle Erscheinungen vorstellen konnte: Einzelne oder mehrere mit so genanntem Migrationshintergrund schlagen in der Öffentlichkeit ohne erkennbaren Anlass auf Frauen ein. So beispielsweise am Morgen des 9. Februar 2024 auf dem Bahnsteig der Station Camp de l’Arpa in Barcelona. Ein Migrant aus dem Maghreb, der später verhaftet wurde und, wie sich herausstellte, schon mehrfach kriminell aufgefallen war, prügelte der Reihe nach auf alle Frauen ein, die dort auf den Zug warteten.

    Von einer Zughaltestelle in Dublin existiert eine ähnliche Aufnahme; hier schlug und trat eine Gang von Jugendlichen auf junge Frauen ein, eine von ihnen landete unter dem (zum Glück noch stehenden) Zug.

    Ihre Opfer wählten sie ganz offensichtlich nur nach Geschlecht aus. Diesem Muster folgte auch Abdirahman Jibril A., der am 25. Juni 2021 in der Innenstadt Würzburgs, wie es in den meisten Medien hieß, „wahllos“ auf Menschen einstach. Ganz wahllos offenbar nicht: Er tötete zwei Frauen und ein Mädchen; von den neun Opfern, die er verletzte, waren acht weiblich. Trotzdem stellte die Oberstaatsanwältin Judith Henkel später fest, es hätten sich bei den Ermittlungen keine Hinweise auf Frauenfeindlichkeit ergeben.
    Diese Art der Angriffe ganz gezielt auf Frauen unterscheidet sich von den Massakern in Israel in der Dimension. Aber es existiert eine Verbindung: Die Überzeugung der Täter, dass Frauen, die sich ohne männliche Begleitung in der Öffentlichkeit bewegen, ein völlig legitimes Ziel darstellen. Und überdies die Bereitschaft, gegen völlig Fremde Gewalt bis zur Vernichtung auszuüben. Sie demonstrieren Macht, indem sie Frauen als Objekte behandeln, die sie zumindest für den Moment ihrem Willen unterwerfen. Für diese Erscheinung in westlichen Städten gibt es bisher keinen schicken Fachbegriff, obwohl sich Makro-Misogynie anbieten würde. Es lässt sich kein besonderes Interesse jener Medien erkennen, sich systematisch damit zu beschäftigen, die ansonsten sehr erpicht darauf sind, kulturelle Trends möglichst früh zu entdecken.

    Nach den Massakern in Israel gab es an Universitäten, Medien und überhaupt im Bereich der Sinnproduktion von Harvard bis Berlin den Willen, die Hamas zu rechtfertigen, ihre Abschlachtung von Zivilisten zu verkleinern oder umzuschreiben. Der Versuch der Progressiven, den Terror gegen Frauen zu ignorieren, in Frage zu stellen oder mit der Generalformel ‚das Problem heißt Mann‘ wegzuerklären, bildet darin ein ganz besonderes Kapitel. Erstens, weil sie hier alle Kraft aufbieten müssen, um ihr Gedankengebäude einstweilen aufrechtzuerhalten. Der zweite Grund liegt im uneingestandenen Motiv des victim blaming, der Beschuldigung von Opfern: Indem sie diese und ihre Geschichte abwehren, wehren sie sich gegen den Gedanken, selbst Opfer werden zu können. Anders lässt sich nicht erklären, warum der mediale Apparat für hunderte vergewaltigte, verstümmelte und ermordete Frauen in Israel noch nicht einmal den Bruchteil der Aufmerksamkeit aufbringt, die die Protagonistinnen der MeToo-Kampagne ganz selbstverständlich auf allen großen Bühnen bekamen. Selbst unter Tonnen von Diskurspapieren lässt sich der Gedanke nicht begraben, dass für westliche Frauen nur eine kleine Wahrscheinlichkeit besteht, einem Harvey-Weinstein-Typus Tribut für eine Karriereförderung entrichten zu müssen – aber ein schon deutlich größeres Risiko, irgendwo und irgendwann Opfer des kombinierten Hasses auf den Westen und auf Frauen zu werden. In ihrem magischen Denken halten es die Erwachten offenbar für das Beste, diesen doppelten Hass bloß nicht anzusprechen.

    Wenn sie sich die Augen zuhalten, dann findet er sie auch nicht.

     

     

     


    Dieser Text erscheint auch auf Tichys Einblick.


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    Einmauern in Mentalitätsgrenzen https://www.publicomag.com/2024/03/einmauern-in-mentalitaetsgrenzen/?utm_source=rss&utm_medium=rss&utm_campaign=einmauern-in-mentalitaetsgrenzen https://www.publicomag.com/2024/03/einmauern-in-mentalitaetsgrenzen/#comments Thu, 07 Mar 2024 07:00:32 +0000 https://www.publicomag.com/?p=18501 von Jürgen Schmid

    Neuerdings will die Regierung in die Gedanken des Souveräns hineinregieren, wozu der Tatbestand einer „mentalen Grenzverschiebung‘“ erfunden wurde – so, als wären die Gedanken nicht mehr frei und eine ergebnisoffene Meinungsbildung zu Begriffen und deren Inhalten nicht nur nicht mehr die Essenz alles Politischen, sondern eine möglicherweise strafbare Handlung.

    Dabei beseitigen die Eingrenzer und ihre Unterstützer selbst ständig Grenzen und nehmen es dabei auch in Kauf,

    Der Beitrag Einmauern in Mentalitätsgrenzen erschien zuerst auf Publico.

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    von Jürgen Schmid

    Neuerdings will die Regierung in die Gedanken des Souveräns hineinregieren, wozu der Tatbestand einer „mentalen Grenzverschiebung‘“ erfunden wurde – so, als wären die Gedanken nicht mehr frei und eine ergebnisoffene Meinungsbildung zu Begriffen und deren Inhalten nicht nur nicht mehr die Essenz alles Politischen, sondern eine möglicherweise strafbare Handlung.

    Dabei beseitigen die Eingrenzer und ihre Unterstützer selbst ständig Grenzen und nehmen es dabei auch in Kauf, die Menschenwürde zu verletzen.

     

    Was dem obersten Geheimdienstler der Bundesrepublik vorschwebt

    „Als größte Gefahr für unsere Demokratie und die Sicherheit sehen wir den Rechtsextremismus“, dekretierte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang (CDU) bei der Pressekonferenz der Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zur Vorstellung ihrer Ideen für ein „Demokratiefördergesetz“. Haldenwang gab dabei ein Versprechen: „Wir verfolgen Bestrebungen gegen die demokratisch-freiheitliche Grundordnung aller Art.“ Beim Rechtsextremismus – und nur über den sprach er im Folgenden – dürfe man nicht nur tatsächliche Gewaltbereitschaft berücksichtigen, sondern müsse künftig auch die schon erwähnte „verbale und mentale Grenzverschiebung“ ins Visier nehmen. Dass in Haldenwangs Ausführungen unklar blieb, wie er mentale Grenzverschiebungen, also Gedankengänge, beobachten will, darf vorerst nicht weiter irritieren. Denn der Verfassungsschutzpräsident setzte die Vorstellung seines Sofortmaßnahmen-Pakets gegen Rechtsextremismus fort, indem er sich und seinen Dienst ermahnte: „Wir müssen aufpassen, dass sich entsprechende [also grenzüberschreitende] Denk- und Sprachmuster nicht in unsere Sprache einnisten.“ Eine unüberwindlich gesicherte Grenze muss vor allem dort bewacht werden, wo beispielsweise das Wort „Remigration“ illegalen Einlass in Denkmuster begehrt.

    Man muss diese Argumentation des ranghöchsten bundesdeutschen Verfassungsschützers Stück für Stück betrachten, um ihre bemerkenswerte Einseitigkeit und den eher postfaktischen Umgang mit empirischen Gegebenheiten, vulgo: der Wirklichkeit, vollumfänglich würdigen zu können.

     

    Selbstverschuldete Blindheit auf eineinhalb Augen

    Wenn Auschwitz den Gründungsmythos der Bundesrepublik bildet, was anlässlich der allgegenwärtigen Gegen-rechts-Aufmärsche in einer Art basso continuo intoniert wird („Nie wieder ist jetzt“), dann müssen diese Aufmarschierer, von denen nicht wenige aus regierungszugewandten Kreisen stammen, zunächst belastbare Kriminalitätsstatistiken zur Kenntnis nehmen. Denn entgegen jahrelang verbreiteter Auffassungen sind antisemitisch motivierte Straftaten eben nicht in erster Linie ein Problem, das von „rechts“ kommt. Aber so soll es aussehen. Und damit es das tut, bekämpfen staatliche Stellen nicht nur nicht den islamischen Extremismus, der in antisemitische Straftaten mündet, sondern versuchen ihn, wie sich immer deutlicher zeigt, hinter kreativ geführten Statistiken zu verstecken. „Im Zweifelsfall sind die Täter rechts: Wie die deutsche Polizeistatistik den islamischen Antisemitismus verschleiert“. Diese für Rechtsextremismus-Bekämpfer Haldenwang unbequeme Wahrheit verkündete jüngst die Neue Zürcher Zeitung (NZZ).

    Hatte noch im Mai 2021 der Deutschlandfunk in einer Art Faktencheck („Was die Polizeistatistik sagt und was nicht“) mit triumphalem Unterton vermeldet, „90 Prozent der antisemitischen Straftaten“ würden „laut Polizeistatistik dem rechten Spektrum zugeordnet“, hat sich inzwischen – auch angesichts des seit dem Hamas-Überfall auf Israel in der deutschen Öffentlichkeit unübersehbaren islamischen Antisemitismus – der Verschleierungsnebel über den wahren Hintergründen des Antisemitismus etwas gelichtet. Werden nicht alle unbekannten Tathintergründe umstandslos dem rechten Spektrum zugerechnet, wie es gängige Praxis ist, wird nicht jeder Bezug auf den Holocaust und jedes NS-Symbol dem „Phänomenbereich Rechtsextremismus“ zugeordnet, sondern korrekt bilanziert, stellt man – wiederum NZZ – fest: „Antisemitismus ist unter Muslimen in Deutschland stärker verbreitet als beim Rest der Bevölkerung“.

    Allerdings hätten die Deutschlandfunker, die stets gerne Studien zitieren, bereits 2021 eine Studie der Universität Bielefeld kennen können, die vier Jahre zuvor feststellte, „dass in Deutschland nach Einschätzung der Betroffenen 81 Prozent der Taten von Muslimen ausgingen – die weniger als 10 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Auf das Konto von Linken gingen demnach 25 Prozent, Rechte tauchen mit 19 Prozent erst an dritter Stelle auf. Die Rangfolge ist also genau umgekehrt wie in der PMK-Statistik [Statistik zur ‘Politisch motivierten Kriminalität’]“, so folgert NZZ-Gastautor Kai Funkschmidt, wissenschaftlicher Referent bei der Evangelischen Kirche in Deutschland. Sein Fazit, „dass viele Verantwortliche bis heute nicht einmal den Mut aufbringen, ein unbequemes, aber realistisches Bild der Lage zu zeichnen“, trifft exakt auf Verfassungsschützer Haldenwang zu. Nur mit dieser Blindheit auf eineinhalb Augen ist zu erklären, warum sich muslimische Schüler in Deutschland so sicher dabei fühlen können, in einem Kino zu applaudieren, wenn dort die Opferzahl des Holocaust genannt wird. Nur mit dieser verzerrten, um nicht zu sagen falschen Wahrnehmung kann das großformatige Plakat zustande kommen, das die Stadt Augsburg über eine Fassade am Rathausplatz hängte: „Für Vielfalt und gegen Antisemitismus“. So etwas kann nur zusammenspannen, wer nicht wahrhaben will, dass das, was er „Vielfalt“ nennt und in großem Stil importiert, weil „wir Platz haben“, den Antisemitismus, den er in gleichem Atemzug beklagt, fördert und bestärkt. Dass es „importierten Antisemitismus“ gibt, ist übrigens keine krude Verschwörungstheorie, sondern wurde vom Präsidenten des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, exakt so benannt.

    Um diese Problemlage zu vernebeln, starteten islamfreundliche Kräfte im Bundestag gerade eine Experten-Kampagne, die prompt die passenden medialen Schlagzeilen generierte, per dpa gleichlautend verteilt auf sämtliche Medien im ganzen Land: „Antisemitismus gesamtgesellschaftliches Problem“.

    Kümmern sich also die Regierenden – die Verantwortlichen in Bund und Ländern samt Exekutive – um die Abwehr aller extremistischen Bedrohungen? Ja, wenn es sich um als „rechts“ gedeutete und oft imaginierte Bedrohungen handelt. Nein, wenn beispielsweise ein konkreter Fall von schwerer Körperverletzung eines jüdischen Studenten vorliegt. Dann sieht die regierende SPD-Innensenatorin der Bundeshauptstadt in der real vollzogenen Straftat eines arabischen Studenten eine politische Meinungsäußerung. Da werden nicht nur „Grenzen des Sagbaren“ verschoben, wie so häufig von Regierungsseite den Rechten vorgeworfen wird, sondern auch des Machbaren. Von jetzt ab erscheint es als machbar, als Student einen jüdischen Kommilitonen aus antisemitischen Motiven zusammenzuschlagen, ohne deshalb eine Exmatrikulation fürchten zu müssen. Und auch gegen den antisemitischen Mob, der kürzlich eine Podiumsdiskussion an der Humboldt-Universität niederschrie, weil dort eine Juristin aus Israel teilnahm, setzte die Hochschulleitung nicht das Hausrecht durch. Videoaufnahmen zeigen, wie die Gäste und Zuhörer ihre Plätze im Saal verließen – unter den triumphierenden Blicken der Veranstaltungssprenger.

     

    „Grenzen des Sag- und Machbaren“ sind stets Zollstationen nach rechts, nie nach links

    Verfolgt der Verfassungsschutz tatsächlich unterschiedslos „Bestrebungen gegen die demokratisch-freiheitliche Grundordnung aller Art“? Eben nicht, sonst sähe der Kampf gegen neolinks-islamischen Antisemitismus anders aus. Auch müssten dann Aktivitäten radikaler Klimaschützer unnachgiebig angeprangert werden. Stattdessen wurden sie von Haldenwang geadelt. Der Inlandsgeheimdienstchef meinte auf einer Diskussionsveranstaltung lobend über die Straßenblockierer und Denkmalsbeschmierer: „Die sagen: Hey, Regierung, ihr habt so lange geschlafen. Ihr, Regierung, müsstet jetzt endlich mal was tun.“ Es sei eine Art gut gemeinter Weckruf, den Haldenwang als nahezu höchstmöglichen „Respekt“ vor dem demokratischen System einordnen mag. Für ihn lautet die gesicherte Erkenntnis in diesem Fall: Nicht extremistisch, damit „kein Fall für den Verfassungsschutz“. Das gleiche gilt für die extremistische Vereinigung „Extinction Rebellion“, die nach Aussagen ihres Gründers Roger Hallam androht, in den Flugbetrieb einzugreifen. Haldenwang erübrigt dafür keine Zeit. Er muss unerwünschte Mentalitäten beobachten.

    Die Klimakleber bilden auch keinen „Mob“, wie die Medien neuerdings viele Bürger bezeichnen, die sich in der Öffentlichkeit protestierend betätigen (worauf wir noch zurückkommen). Sie werden stets als „Aktivisten“ vorgestellt. Eine Vorkämpferin der „Letzten Generation“, die sich vor Gericht verantworten muss, darf im ZDF unwidersprochen sagen: „Ich habe die Taten begangen, sie sind nicht verwerflich, sondern nötig.“ Ist das Beschönigen von Straftaten durch Täter auch eine Verschiebung von „Grenzen des Sagbaren“? Ja, aber eine notwendige, die dem Staat, gegen den sie gerichtet ist, Respekt entgegenbringt, wenn nötig eben in Form von Straftaten. Darauf läuft die Haldenwang’sche Beweisführung hinaus.

    Verwerfliche „Denk- und Sprachmuster“, die der Geheimdienstchef offensichtlich ausschließlich im rechten, sprich: nicht-linken politischen Spektrum verortet, dürften sich seiner Ansicht nach „nicht in unsere Sprache einnisten“. In diesem Hygienedenken muss allerdings niemand den Vorwurf fürchten, die Grenzen nach links zu verschieben. Nie heißt es in den wohlmeinenden Medien: „Professor XY verbreitet an der Universität linkes Gedankengut“, wenngleich das an deutschen Hochschulen inzwischen zum guten Ton gehört. „Grenzen des Sagbaren“ sind stets Zollstationen nach rechts, nie nach links.

    „Umstritten“ ist immer nur jemand, der als „rechts“ markiert ist; „Querdenker“ im anzuklagenden Sinne nur der, der von der geltenden Staatsräson abweicht, wobei das querdenkende Abweichen so lange in guter Ordnung war, wie sich die Staatsräson nicht im Zugriff von Leuten befand, die früher Begriffe wie „Querdenken“ und „Widerstand“ liebend gern für sich in Anspruch nahmen.

    Wer wie der oben zitierte Haldenwang und mit ihm der gesamte machthabende Komplex immer inflationärer von „unserer Demokratie“ spricht, in deren Namen er die „freiheitlich-demokratische Ordnung“ gegen vermeintlich rechte Umtriebe verteidigen will, bestätigt mit diesem besitzanzeigenden Fürwort genau das, was Kritiker des Parteiensystems wie Hans Herbert von Arnim seit langem beschreiben: den Machtmissbrauch von Politikern, die „sich den Staat zur Beute machen“, so sein Buchuntertitel zu den „Selbstbedienern“ (2013). Große Teile des politmedialen Komplexes wollen davon nichts hören – und offenbaren damit zugleich ein Wahrnehmungsproblem hinsichtlich Eskalation und Radikalisierung. Von Arnims Buch „Deutschlandakte“ wurde 2008 in der Zeit so bewertet: „Der Parteienkritiker Hans Herbert von Arnim radikalisiert sich – und befördert die Demokratieverachtung.”

     

    „Verbale und mentale Grenzverschiebungen“ – nach linksautoritär kein Problem

    Infragestellungen der parlamentarischen Demokratie bis zur theoretisch sorgfältig unterfütterten Demokratieverachtung kamen bisher eher nicht von rechts, sondern vom gegenüberliegenden Ufer: Ein Grünen-Vordenker, liiert mit der Heinrich-Böll-Stiftung, liefert mit seiner Studie „Simulative Demokratie“ die Blaupause für die Zeit „nach der postdemokratischen Wende“ (2013). Der transformationswütige Freitag titelt: „Öko-Diktatur? Ja, bitte!“ (2019). Ein bekannter Schriftsteller fordert von der Regierung zu Corona-Zeiten in der Süddeutschen: „Mehr Diktatur wagen“ (2021). In der Broschüre „Smart City Charta“ des Bundesumweltministeriums fand sich der später wieder entfernte Absatz: „Post-Voting Society: Da wir genau wissen, was Leute tun und möchten, gibt es weniger Bedarf an Wahlen, Mehrheitsfindungen oder Abstimmungen. Verhaltensbezogene Daten können Demokratie als das gesellschaftliche Feedbacksystem ersetzen.“ Zeit-Redakteur Georg Diez schließlich begehrte gerade medienöffentlich „eine neue Revolution“, die per Losentscheid bestimmte „Bürgerräte“ etablieren möge. Dass Diez für sich wie selbstverständlich das Recht auf eine radikale Kritik des Parteienstaats in Anspruch nimmt – dass „Parteien die politische Willensbildung reklamieren“ sei „ein Problem für die Demokratie“ –, die ein Milieu als hoch gefährlich bis verfassungswidrig abstempelt, sobald sie von der anderen Seite kommt, wirkt grotesk. Und in keinem der oben genannten Fälle sah sich der Verfassungsschutz zur Mentalitätsgrenzbewachung genötigt. Wenn ZDF-Satiriker Jan Böhmermann unverschlüsselt dazu auffordert, man solle „einfach mal ein paar Nazis keulen“, gilt im medialen Milieu nicht dieser Satz als Skandalon, sondern die „hysterische Reaktion“ darauf, so der Spiegel. Ganz anders die Aufwallung, wenn jemand in sehr gemäßigter Form („Kann Habeck bis drei zählen?“) die Grünen verhöhnt – da geht sofort die Rede von „Beleidigung“ um, die Hausdurchsuchung und Strafbefehl über 6000 Euro nach sich zieht.

     

    Parteien wirken bei der politischen Willensbildung mit – außer „rechte“

    „Mentale Grenzverschiebungen“ sollen nach dem Willen von Verfassungsschutzpräsident Haldenwang also nicht generell, sondern nur in einer Richtung unterbunden werden. Das ist nicht nur der Ruf nach der Gedankenpolizei, sondern auch eine Kampfansage an das Politische überhaupt, die nicht zur grundgesetzlichen Vorstellung von politischer Willensbildung passt. Der Verfassung zufolge („Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“, Artikel 21 GG) arbeitet jede politische Strömung daran, Begriffe zu prägen und Deutungshoheit zu erringen, wozu es schon immer gehörte, „Grenzen des Sagbaren zu verschieben“. Das ist eigentlich eine banale Feststellung. Und natürlich müssen auch oppositionelle Gruppen Begriffe prägen. Was gegenwärtig aber entscheidend ist für alle, die mit der Regierungspolitik und deren Begriffsmanagement nicht einverstanden sind: Begriffe wie Heimat oder Volk, die verbannt, verbogen, delegitimiert wurden, zu verteidigen.

    Bilden nicht ständige mentale Grenzverschiebungen durch den Kampf um Deutungshoheit und Begriffe die Essenz des Politischen? Wie hätte es sonst über drei Jahrzehnte hinweg eine Begriffseroberung und Mentalitätsverschiebung hin zu grünen Inhalten geben können? Wenn Parteien bei der politischen Willensbildung mitwirken sollen – was anderes kann gemeint sein als eben die Herausbildung und Artikulation unterschiedlicher Mentalitäten? Nur muss das Prinzip dann eben für das gesamte politische Spektrum gelten.

    Manchmal lohnt es sich, Texte in ‚einfacher Sprache‘ zu lesen, weil sie sich auf den Kern konzentrieren. In einer Erläuterung der Bundeszentrale für politische Bildung zum Thema Parteien heißt es: „Menschen, die eine Partei gründen wollen, brauchen dafür keine Erlaubnis.“ Und: „Menschen haben verschiedene Meinungen. In verschiedenen Parteien tauschen sie sich darüber aus und entwickeln gemeinsam Ideen.“ Was hier durch die Bundeszentrale für Politische Bildung paraphrasiert wird, atmet den Geist des Grundgesetzes. In der Verfassungswirklichkeit unserer Tage aber versteht sich ein mächtiger Herrschaftskomplex durchaus als Mentalitäts- und Türhüter, der darüber entscheiden will, wen man in „unsere Demokratie“ einzulassen geneigt ist und bei wem man – wie jüngst bei Maaßens Werte-Union-Gründung – eher den Daumen senkt oder ihn, wenn es um das Bündnis von Sahra Wagenknecht geht, zumindest nicht hebt, sondern erst einmal Legitimitätsnachweise verlangt.

     

    Das Ringen um Begriffe ist die Quintessenz des Politischen – und soll streng limitiert werden

    Ein weiteres Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung erklärt unter dem Stichwort „Es geht um Einfluss auf die Köpfe“ alle Versuche aus dem rechten Spektrum, aus der Opposition heraus, Deutungsmacht zu erlangen, zur Demokratiegefährdung. Als nicht demokratiegefährdend gilt dagegen die Ankündigung der grünen Parteivorsitzenden Ricarda Lang: „Wir müssen in die Umkleidekabinen, an die Stammtische“.

    Solch eine Ansage wird als Begleitmusik der Forderungen nach einem „Demokratiefördergesetz“ wohlwollend aufgenommen.

    Dabei gibt es einen wesentlichen Unterschied: Während die Oppositionellen Einfluss erst gewinnen wollen, indem sie Begriffe prägen und besetzen, möchte die Regierungsseite, die eine amtliche Deutungshoheit bereits errungen hat, Begriffe, die ihrer Deutungshoheit zuwiderlaufen, stigmatisieren und ihre Verwendung in den Schein des Illegitimen rücken (denn nichts anderes bedeutet ja die Meldeplattform-Formulierung „unterhalb der Strafbarkeitsschwelle“). Man will nicht in die Umkleidekabinen, um den Menschen dort die Vorzüge von Regierungsarbeit und Demokratie zu erklären, sondern um sie auszukundschaften, ob sie etwas gegen die Regierung äußern oder Begriffe verwenden, die die Regierung nicht verwendet sehen möchte. Was das sein könnte, hat die Friedrich-Ebert-Stiftung unlängst in einer Studie klar gemacht: Schon wer „Ausländer“ sagt, gebe sich damit als „rechts“ zu erkennen.

     

    Grenzen sollen errichtet werden gegen die, deren Stimme unerwünscht ist

    Am besten ist es für die Machtinhaber, unliebsame Stimmen ganz aus der öffentlichen Wahrnehmung auszublenden. Wann hat man zum letzten Mal jemanden in den etablierten Medien so sprechen hören wie den authentisch dialektelnden Bauern aus Biberach im Kontrafunk? Dass solche Stimmen fast nie medial-öffentlich hörbar sind – und dies ausgerechnet in Zeiten, wo ständig etwas „sichtbar“ gemacht werden soll, was es wie eine Vielzahl selbstentworfener Geschlechter real gar nicht gibt – markiert eine dramatische Verschiebung im Diskursraum: Wer ist sichtbar, wer darf öffentlich hörbar sprechen – und wer nicht? Wessen Meinung wird neutral berichtet, wem wird unlautere Agitation unterstellt, wessen Stimme positiv verstärkt? Ziel der regierenden Klasse ist der Ausschluss, mindestens die Diskreditierung von Stimmen, die für sie unangenehmes Gedankenmaterial in die Öffentlichkeit tragen könnten. Kurzum: Hier schiebt der politisch-mediale Komplex unentwegt die Mentalitätsgrenzen vor sich her – immer in die gleiche Richtung.

     

    Immer dasselbe Muster – ein Messen mit zweierlei Maß

    Es gäbe kaum Hass und Hetze von links, verkündete kürzlich ein ÖRR-Experte im Brustton der Überzeugung. Grenzverschiebungen, Hass und Hetze, Populismus – das alles ist dem Reich des Bösen vorbehalten, in progressiven Gefilden sei es gar nicht anzutreffen. Dabei zeigt gerade der aktuelle Böhmermann-Spruch „Nazis keulen“ das Ausmaß, in dem der Hass sich ins Milieu der Wohlmeinenden und Erleuchteten eingefressen hat, so offensichtlich, dass sie ihn in ihrem profan-heiligen Furor, der exorzistische Züge angenommen hat, gar nicht mehr zu bemerken scheinen.

    So, wie die zur Gefahr gestempelte Mentalitätsverschiebung immer nur nach rechts stattfindet, die ‚Grenzen des Sagbaren‘ nie nach links verrutschen, so, wie kein ‚linkes Gedankengut‘ als Warnbegriff existiert, gilt als ‚ausgrenzend‘ nur, was rechts zugeordnet wird, genauso wie demokratiezersetzende Protestformen. Und der ‚Mob’ droht zuverlässig nur aus einer Richtung.

    „Wir müssen die Bauern ruppiger anfassen“, forderte beispielsweise die Autorin Karen Duve bei einer Veranstaltung der Autorenvereinigung PEN. Die Aufforderung, Migranten ohne Aufenthaltsrecht ‚ruppiger anzufassen‘, würde umgehend einen Proteststurm aller Wohlgesinnten auslösen, das gesamte PEN-Zentrum Deutschland natürlich eingeschlossen.

    Auch die moralische Bewertung des Mobs als solchem unterliegt feinen Unterscheidungskriterien. Demonstrierende Landwirte sind verdammenswerter „Kartoffel-Mob“ (Fähranleger Schlüttsiel) oder „Wut-Mob“, „Hassmob“, „aufgepeitschter rechter Mob“ (Aschermittwoch der Grünen in Biberach), letztlich ein „Mob von Grünen-Hassern“. „Flashmob-Aktionen“ der Gewerkschaft ver.di „zur Besetzung und Blockade von Geschäften“ erteilt dagegen das Bundesarbeitsgericht seinen Segen als „eine zulässige Arbeitskampfform“. Beziehungsweise ist diese Lesart das, was Wikipedia aus dem Wortlaut des Urteils, das die Lexikon-Plattform verlinkt, macht – im Original heißt es, „eine Störung betrieblicher Abläufe“ sei im Rahmen von Tarifauseinandersetzungen „nicht generell unzulässig“ (BAG, Urteil vom 22.9.2009 – 1 AZR 972/08).

    Der Stern gibt Eltern Tipps, wie sie Kinder zur Räson bringen können, die etwas „Fragwürdiges“, also „rechte Parolen“, von sich geben. Was passiert eigentlich, wenn ein Kind plötzlich linke Parolen äußert, zum Beispiel, man werde „das eine Prozent Reiche erschießen“ zum Beispiel, wie es eine Linkspartei-Genossin einmal forderte?

     

    Eskalation betreiben vor allem jene, die unablässig vor Eskalation warnen

    Geradezu lächerlich wird der Vorwurf der Grenzverschiebung von Seiten derjenigen Machtausüber, die das Sagbare mindestens seit den Maßnahmen gegen Corona in Bereiche ausgedehnt haben, die vormals als tabu galten, flankiert von Reden über eine große Menschengruppe als „Blinddarm der Gesellschaft“ (Sarah Bosetti).

    Zur Betrachtung des Begriffs „mentale Grenzverschiebung“ gehört – nach der Feststellung, dass jede Politik auf Begriffsprägung und Mentalitätswandel hinausläuft – auch die Frage: Was tut sich auf diesem Gebiet eigentlich rechts der Mitte? Dort gibt es nicht viel mehr als die defensive Forderung, endlich wieder einen Zustand zu erreichen, wie er über lange Zeit selbstverständlich zur Bundesrepublik gehörte, und der mit dem immer noch geltenden Recht in Einklang stünde. Etwa bei zu vollziehenden Abschiebungen. Oder der Regel, dass sich der Staat nicht in den öffentlichen Meinungskampf einmischen darf.

    Der linke Komplex eskaliert im Allmachtsgefühl unaufhörlich an allen Fronten. Für als „rechts“ markierte Personenkreise soll aber nicht einmal denkbar sein, was für Regierungsmitglieder und deren Unterstützer zum selbstverständlichen Ton gehört („Blinddarm“, „Mistgabel-Mob“, „ruppiger anfassen“).

     

    Ein Ende der „mentalen Grenzverschiebung“ wäre das Ende der Politik

    Was wäre die ultimative Antwort „des Staates“ auf die Grenzverschiebungen der Opposition, die mittels „Demokratiefördergesetz“ am besten unterbunden werden sollen? Man kann sich an dieser Stelle den Konjunktiv sparen; die Antwort gibt es schon. Maja Wallstein, mit einem Direktmandat im Wahlkreis Cottbus/Spree-Neiße SPD-Abgeordnete des Deutschen Bundestages, erwiderte dem Bundesvorsitzenden der Jungen Union, Johannes Winkel, auf dessen Feststellung, würden „große Probleme in diesem Land“ wie „Migration und Energie“ nicht gelöst, „dann wählen immer mehr Leute AfD“: „Genau darum darf es nicht gehen. Wollen wir Positionen der AfD aufgreifen und deren Politik umsetzen? Dann machen wir uns zu deren politischen Steigbügelhaltern. Es zeigen zahlreiche Studien, dass die Menschen trotzdem das Original [also AfD] wählen.“ Deutlicher kann eine Politikerin, die einer regierenden Partei angehört, die Selbstlähmung nicht artikulieren. Würde die Regierung Probleme lösen, die von der Opposition als Problem benannt werden, würde sie nach dieser selbstgezimmerten Logik die Opposition stärken und sich selbst schwächen.

    Lange schon hat sich der zeitgeistige politmediale Komplex selbst in die Brandmauern seiner Korrektheitsansprüche so dicht eingeschlossen, dass Luft und Licht nicht mehr ins Innere dringen. Nachdem nun der Sauerstoff in dieser hermetisch abgeriegelten Echokammer langsam zur Neige geht, soll die bewachte und undurchlässige Mentalitätsgrenze rechts der Mitte einen Machtanspruch absichern, für den es keine Mehrheit mehr gibt. Wallstein und Gleichgesinnte verhängen gewissermaßen gegen sich selbst ein Handlungsembargo für politische Ideen. Mit diesem Gesellschaftsverständnis rauben sich die Wohlmeinenden auch noch den letzten Spielraum.

    Begriffe und die damit verhandelten Inhalte befinden sich im Fluss. Sie müssen umstritten sein, wenn die Rede von einer Demokratie, an der jeder Souverän mit seinem uneingeschränkten Meinungsfreiheitsrecht Anteil nehmen darf, nicht zur kompletten Hohlformel, ja zur Chiffre für den Machterhalt jener Gruppe verkommen soll, die sich gerade den Staat zur Beute gemacht hat. Eine Politik, die politisches Denken, Sprechen und Handeln nicht nur kontrollieren, limitieren und zensieren, sondern letztlich völlig unterbinden will und dann auch noch aus Angst vor politischem Handeln jede Politik gleich ganz einstellen möchte, versetzt sich selbst den Todesstoß.

     

     

     

     

     


    Jürgen Schmid ist Historiker und freier Autor. Er lebt in München.


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    Die Versammlung konnte stattfinden, nur eben nicht ganz ungestört.

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    Im oberfränkischen Hirschaid, einem Städtchen mit etwas über zwölftausend Einwohnern, kam es kürzlich zu einem Ereignis, über das etliche überregionale Medien breit berichteten. Bundespolitiker äußerten sich, demnächst beschäftigt sich das bayerische Parlament mit dem Vorfall, möglicherweise auch der Bundestag. Das Menetekel von Hirschaid bestand darin, dass etwa 300 Landwirte auf der Straße protestierten, während der Kreisverband der Grünen im geschlossenen Raum tagte.

    Die Versammlung konnte stattfinden, nur eben nicht ganz ungestört. Einige Landwirte betätigten die Hupe an ihrem Traktor, jemand zündete einen Böller und wie es im Polizeibericht hieß, kam es außerdem noch zum „Leuchten mit Scheinwerfern und Hineinfilmen in den Veranstaltungsraum“, außerdem zum „Klopfen an den Fenstern“. Die Klopfgeräusche stammten also anders als in dem Lied der „Comedian Harmonists“ nicht vom Regen, der metaphorisch für den Verehrer steht, sondern von verstimmten Bauern, die in Hirschaid stellvertretend für viele andere Grüße von der Außenwelt bestellten. Seine Parteifreunde, sagte der Grünen-Kreisvorsitzende Tim-Luca Rosenheimer, hätten an diesem Abend „extreme Angst“ verspürt. Bevor es in diesem Text weiter um Angst, Unmut und die Veränderungen im Land geht, soll hier noch ganz kurz das Thema ‚Versammlungsstörung‘ gestreift werden.

    Vor gar nicht allzu langer Zeit sprengten linksradikale Aktivisten und Hamas-Anhänger an der Humboldt-Universität eine Diskussionsveranstaltung, an der eine Vertreterin des Obersten Gerichts von Israel teilnahm, oder besser, teilzunehmen versuchte. Das oberste Gericht Israels, das nur nebenbei, liegt über Kreuz mit der Regierung Netanjahu, wer also nur dessen Kurs kritisieren wollte, hätte in ihr vermutlich eher eine Unterstützerin. Darum ging es denjenigen nicht, die alles, was die Juristin zu sagen versuchte, mit ihrem Gebrüll erstickten. Sie wollten jede Debatte mit einer Vertreterin Israels verhindern, völlig unabhängig von ihren Positionen. Etwas ganz Ähnliches passierte bei einer Lesung aus Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ im Hamburger Bahnhof in Berlin. Der Abend endete schnell, weil die üblichen Postkolonialisten, Kritischen Rassentheoretiker und Generalankläger, wie sie Universitäten mittlerweile in Serie auf die Gesellschaft loslassen, die Vorleserin so lange niederschrien, bis sie aufgab.
    Die Leitung der Humboldt-Universität erklärte die antisemitischen Brülltruppen in ihrem Haus zu „propalästinensischen Aktivisten“, ansonsten zeigte sie sich weder sonderlich überrascht noch empört.

    Weder in dem einen noch dem anderen Berliner Fall meldeten sich auch nur annähernd so viele Politiker zu Wort wie nach der wegen einiger Demonstranten abgesagten Aschermittwochsveranstaltung der Grünen in Biberach und dem Fensterklopfterror von Hirschaid. Es befassten sich auch sehr viel weniger überregionale Medien damit. Schon gar nicht erschien in der Zeit ein Aufruf, jetzt müssten sich alle zum Schutz von Veranstaltungen unterhaken, die irgendwelchen identitätspolitischen Empörungssturmabteilungen nicht passen.

    In der Vergangenheit konnten außerdem Veranstaltungen an mehreren Universitäten wegen angedrohter Störaktionen nicht stattfinden, beispielsweise ein Vortrag des Historikers Jörg Baberowski an der Universität Bremen, ein Auftritt des Polizeigewerkschaftlers Rainer Wendt an der Universität Frankfurt und eine populärwissenschaftliche Vorlesung der Biologin Marie-Luise Vollbrecht über den Unterschied zwischen biologischen Geschlechtern (zwei) und Geschlechtsrollen (variabel) an der Humboldt-Universität.

    In jedem dieser Fälle drohten diejenigen, die nicht diskutieren, sondern verhindern wollten, mit etwas mehr als bloßen Klopfgeräuschen am Fenster. Und in keinem einzigen Fall empörte sich ein Jürgen Trittin, ein Robert Habeck, eine Claudia Roth und andere, die jetzt gerade wegen Biberach und Hirschaid die Demokratie wanken sehen, über Methoden dieser Art, die wie erwähnt ein bisschen über Hirschaid hinausgingen. Es findet sich in den Archiven einfach nichts dazu.

    Dafür aber etwas anderes, wenn es um Blockade und Sprengung von Versammlungen der Pariapartei ging und immer noch geht, für die nach grüner Einschätzung auch nach Hirschaid andere Regeln gelten. Im Grunde genommen gar keine außer der, dass alle Mittel erlaubt sind. Nach erfolgreicher Blockade eines AfD-Parteitags in Niedersachsen etwa berichtete der damalige Vorsitzende der Grünen Jugend Timon Dzienus 2021 auf Twitter Vollzug: „Niemand kommt aufs Gelände, keiner mehr weg.“

    In den Handreichungen der Organisation „Aufstehen gegen Rassismus“ – zu den tragenden Mitgliedern gehören Jusos, Linke, IG Metall, ver.di und der Zentralrat der Muslime – heißt es zu Aktionen gegen die AfD:
    „Wenn ihr nicht verhindern könnt, dass die Veranstaltung stattfindet, könnt ihr trotzdem dafür sorgen, dass die AfD ihre Propaganda nicht ungehindert verbreiten kann. Vielleicht schafft ihr es, euch mit mehreren Leuten in die Veranstaltung hineinzuschummeln. Drin könnt ihr z.B. mit Zwischenrufen, Sprechchören, einer versteckten Bluetooth-Box oder Trillerpfeifen für Ablenkung sorgen oder die Veranstaltung sogar komplett verhindern.“

    Aber das, antworten Grüne und wohlgesinnte Medienvertreter, sei doch wohl nicht das Gleiche oder vergleichbar; auf der einen Seite das Niederbrüllen von Podiumsdiskussionen, die Drohungen gegen unerwünschte Redner an Universitäten, das etwas robuste Vorgehen gegen die Partei der Unberührbaren sowieso und auf der anderen Seite Hup- und Klopfkonzerte, wenn sich Grüne zur Beratung zusammensetzen. In gewisser Weise stimmt das auch. Keine israelische Richterin und kein als rechtsradikal verleumdeter Professor entwirft Paragraphen, um bis in die Heizungskeller von Normalbürgern hineinzuregieren, das Bauen zu verteuern oder ganz zu verunmöglichen, keiner erklärt die gerechte Verteilung häuslicher Arbeit zur staatlichen Aufgabe, kündigt eine Energieversorgung nach Wetterlage an, vertritt eine Migrationspolitik, die das Land zerreißt, zieht bisher gut bezahlten Industriebeschäftigten die Arbeitsplätze unter den Füßen weg, keiner regt in Wir-haben-Platz- und Zusammenland an, die Alten aus ihren zu großen Behausungen zu treiben. Niemand aus diesem Personenkreis vertritt die Ansicht, Wohlstand müsste in Zukunft eben anders definiert werden, nämlich nicht mehr so materiell, vor allem, solange es andere betrifft. Auch die AfD tut es nicht. Und selbst wenn sie es täte, würde dieser Partei, die bisher nur einen Landrat und eine knappe Hand voll Bürgermeister stellt, die Macht dazu fehlen, tatsächlich auf Land und Leute einzuwirken.

    Vor allem fordert kein einziger aus der oben bezeichneten und sehr heterogenen Gruppe, bei der es sich eigentlich gar nicht um eine wirkliche Gruppe handelt, die Normalbürger müssten jetzt endlich einmal ihre Angst vor Veränderungen überwinden, sie halten also keine Anfeuerungsreden wie die Hedwig Richter, Professorin an der Bundeswehruniversität München, die meint, bei der Transformation könnte es gesellschaftlich hier und da ein bisschen ruckeln, am Ende würden die Menschen sich glücklich schätzen, wenn sie endlich jemand von dem Zwang befreit, ein Auto zu besitzen

    Auch Sätze wie die von Katrin Göring-Eckardt dringen zuverlässig nur aus einer Richtung in die Restgesellschaft: „Meine Partei steht eben wie keine andere für Veränderung. Und die ist immer schwer, vor allem, wenn sie konkret wird und es um einen selbst geht. In Ostdeutschland ist die Veränderungsmüdigkeit wahrscheinlich tendenziell größer als in Westdeutschland.“
    Nun wenden manche vielleicht ein, Robert Habeck und Göring-Eckardt gehörten zwar zweifellos zum grünen Politikpersonal, Hedwig Richter sei aber Wissenschaftlerin und der Vorschlag, Alte mit einer „Alleinwohnsteuer“ aus ihren zu großen Räumen zu treiben, um Platz für andere zu schaffen, sei in der Süddeutschen erschienen.

    Allerdings nehmen sehr viele Menschen an dieser Stelle nicht mehr getrennte Mächte wahr, sondern einen politisch-akademisch-medialen Komplex von ziemlich einheitlicher Färbung.
    Wenn Personen und Institutionen so eng zusammenrücken, ergibt die Differenzierung irgendwann keinen Sinn mehr.
    Wahrscheinlich facht nichts die Wut von Normalbürgern mehr an als die Unterstellung, sie klammerten sich zu sehr an das Gewohnte und sie fürchteten sich unsinnigerweise vor Veränderungen. So gut wie niemand wehrt sich gegen Veränderungen zum Besseren. Eine Mehrheit empfindet sogar schon Dankbarkeit, wenn sich ihre Lebensverhältnisse nicht weiter verschlechtern. Was für sie als Verbesserung beziehungsweise Verschlechterung gilt, entscheiden die Betroffenen am liebsten selbst. Sie lassen es sich besonders ungern von Bundestagsvizepräsidentinnen und verbeamteten Professorinnen erklären, also Transformationstechnikern mit üppiger Pensionsberechtigung. Oder von Journalisten, die bei nächster Gelegenheit den Steuerzahler um Stütze angehen.

    Bei der Entwicklung, die neuerdings auch Auftritte und Zusammenkünfte von Grünen ungemütlich macht, handelt es sich zweifellos um eine Veränderung. Und zwar eine, die das Leben und Wirken grüner Politiker verschlechtert. Wenn sich eine Gesellschaft auf Geheiß von Amtsträgern fundamental wandelt, dann ändern sich auch ihre Bürger. Vor allem, falls die Transformation ihnen nicht nützt, sondern objektiv schadet. Eher friedfertige und in politischen Angelegenheiten behäbige Zeitgenossen verwandeln sich ab einem bestimmten Punkt der eigenen Betroffenheit in wütende Subjekte, die sich auf einmal zu Aktionen bereitfinden, welche ihnen in Zeiten der alten ausgleichenden Wohlstandsbundesrepublik nie in den Sinn gekommen wären. Diejenigen, die schon länger unter dem Verschlechterungswandel leiden, können den Grünen jetzt völlig zurecht zurufen, sich bitte weniger fragil zu benehmen und keine Veränderungsmüdigkeit vorzuschützen. Was soll denn aus der großen Transformation werden, die keinen Stein mehr auf dem anderen lässt, wenn die Transformationstreiber schon jetzt schwächeln, bloß weil ihnen jemand ans Fenster klopft? Die fragenden Bürger könnten außerdem die Worte der ZDF-Frontfrau Dunja Hayali vom 29. Januar 2021 zitieren: “Man kann in Deutschland eigentlich alles sagen. Man muss dann halt manchmal mit Konsequenzen rechnen.”

    Andere aus sicherer Position für ihre mangelnde Veränderungsbegeisterung zu verspotten, wenn sie in Wirklichkeit nur Verschlechterungen abzuwehren versuchen – mehr Verachtung geht kaum. Wenn es ein Juste Milieu gibt, das für sich selbst die Macht- und Einkommensverhältnisse zu zementieren wünscht, dann die Triade progressiver Berufspolitiker, staatsgeldversorgter Neoregierungsorganisationen und in irgendeiner Weise bezuschusster Medienvertreter. Und wenn jemand weiß, wie man sich weitgehend klaglos durch Veränderungen navigiert, dann am ehesten Mittelständler, Landwirte, Handwerker, Gewerbetreibende, Selbstständige und generell Leute, die ihr Geld in der freien Wirtschaft verdienen.

    Vor einigen Jahren besuchte ich eine Firma in Baden-Württemberg, die damals gerade ihr hundertjähriges Bestehen feierte. Das heißt: ‚feiern‘ musste eher metaphorisch verstanden werden. Der Chef, Unternehmer der vierten Generation, erwähnte den runden Jahrestag gar nicht, als er mich über das Gelände führte. Die Rolle des schwäbischen Kapitalisten verkörperte er mit allem Drum und Dran, ausgeprägter Dialekt, Hingabe an die technischen Feinheiten seiner Produkte, dazu das Bedürfnis, sich ausgiebig über Politiker aufzuregen, die nichts von seinem Geschäft verstünden, aber ständig neue Vorschriften dafür erfinden würden. Das Mittelstandsunternehmen baute Wechselrichter, also Anlagen, die Gleich- in Wechselstrom verwandeln. Der Exportanteil lag damals bei fünfzig Prozent. Als seine Vorfahren die Fabrik gründeten, begannen sie mit der Herstellung von Verstärkerröhren, dann folgten allerlei Teile für Radioapparate, später wieder etwas anderes und schließlich eben Wechselrichter, hauptsächlich für Solaranlagen. In Gegenden Afrikas und Indiens fernab vom Stromnetz, erzählte der Chef, sei Solartechnik zur Versorgung von Siedlungen eine gute Idee, bei der Sonnenscheindauer und Strahlungsintensität funktioniere sie dort ohne Subventionen und es müssten auch keine teuren Leitungen gebaut werden. Dass die Firma nach einem Jahrhundert existierte, verdankte er der enormen Anpassungsfähigkeit seiner Vorgänger, die ganz selbstverständlich von der Veränderung als einziger Konstante im Geschäftsleben ausgingen. Wenn er über die Politik schimpfte – wobei er schwäbische Wendungen benutzte, deren Bedeutung ich nur ahnen konnte – dann erfüllte er vermutlich alle Haldenwang’schen Kriterien für Staatswohlgefährdung. Die gab es damals noch nicht, genauso wenig wie eine Bundesvorsitzende Ricarda Lang, die idealtypische Repräsentantin des gesamtgrünen Komplexes. Sie meinte vor wenigen Tagen in einer Talkshow, sie und andere führende Köpfe ihrer Partei müssten Unternehmen „bei der Modernisierung unterstützen“, ihnen also überhaupt erst einmal erklären, wie sich Technologien und Märkte demnächst entwickeln. Als FDP-Chef Christian Lindner in der Sendung seine Skepsis andeutete, ob Staatsvertreter darüber tatsächlich so gut Bescheid wüssten, machte Lang ihm die Verhältnisse deutlich: „Wir kommen aus verschiedenen Denkschulen.“

    Der schwäbische Mittelständler kannte, wie erwähnt, viele Wechselfälle und hielt prinzipiell alles für möglich. Aber unter keinen Umständen würde es ihm einfallen, jemanden wie Ricarda Lang zu fragen, wohin er seine GmbH entwickeln sollte. Nie würde er sie um Hilfe bei der Planung bitten, sondern vermutlich sagen: Helfen Sie mir nicht, allein ist es schon schwer genug. Leute wie dieser Unternehmer halten es für Wahnwitz, wenn Politiker wie Ursula von der Leyen, Robert Habeck, Ricarda Lang und andere den Energieerzeugungsmix bis 2050 und die Antriebstechnologie für Fahrzeuge ab 2035 festlegen oder bestimmen wollen, dass bis 2030 dreißig Prozent aller Lebensmittel in Deutschland aus Bioanbau stammen sollen. Der Firmenbesitzer könnte ihnen erklären, dass er selbst nicht weiß, wie sein eigener Markt in zehn Jahren aussieht und demzufolge, was sein Unternehmen dann tut, um weiter zu überleben. Und warum er nie Haus und Hof darauf verwetten würde, dass sich bestimmte Szenarien irgendwelcher Energiewende-Thinktanks ein Jahrzehnt später genau so verwirklichen wie auf dem Planungspapier von Abgeordneten, Professoren und Lobbyisten, die noch nie im Leben für irgendetwas haften mussten.

    Unternehmer dieser Sorte, aber auch ihre Angestellten macht es deshalb außerordentlich wütend, mindestens so sehr wie die Demonstranten von Biberach und Hirschaid, wenn ihnen eine Berufsfunktionärin, die weder über einen Abschluss in irgendeiner Denkschule noch eine einzige Lebenssekunde Erfahrung in einem beliebigen Unternehmen verfügt, sie über den Inhalt ihrer Hosentaschen belehren möchte. Es macht sie sehr unwirsch, wenn ihnen eine andere ungelernte Steuerzahlerkostgängerin den Unwillen gegen künftige Verschlechterungen wegzutherapieren versucht. Hier stehen nicht verschiedene Denkschulen gegeneinander, sondern Erfahrungswelten, wobei sich die Erfahrung sehr, sehr ungleich verteilt. Auf der einen Seite stehen Normalexistenzen, die gar nichts anderes kennen als die Kunst, unentwegt Veränderungen mitzumachen und dabei irgendwie ihre Interessen zu schützen, auf der anderen eine Kaste, deren Mitglieder nie etwas gründen, nie etwas Nützliches produzieren, sich nie dem Markt aussetzen und nie dafür bezahlen, wenn ihre Entscheidungen sich als falsch herausstellen. Die Wut der einen auf die anderen übertrifft bei weitem die Aufregung über Details wie Agrardiesel, CO2-Steuererhöhung, die Steuern überhaupt, alleserstickende Vorschriften und die Außenministerinnenbemalung auf Staatskosten.

    Ich stehe auch aus biografischen Gründen auf der Seite des schwäbischen Firmenchefs. Mein kleines Flexbilitätsgen stammt wahrscheinlich von meiner Urgroßmutter, die einen Dorfladen führte, also ein Geschäft für fast alles außer Lebensmittel. Sie steuerte das winzige Unternehmen durch den Ersten Weltkrieg, Hyperinflation, Weltwirtschaftskrise, den Zweiten Weltkrieg und sogar noch die Anfangsjahre der DDR. Dabei erwies sie sich als Meisterin des permanenten Wandels, obwohl sie das Dorf in ihrem langen Leben nur selten verließ.

    Apropos Wandel: Die Arbeitsplatzverluste in der Industrie beginnen erst. Schon 2023 fiel die Wertschöpfung in der chemischen Industrie auf den Stand von 1993. Für das aktuelle Jahr und die folgenden kündigte BASF-Chef Martin Brudermüller die Stilllegung weiter Anlagen im Stammwerk Ludwigshafen an und kommentierte das mit dem Satz: „Wir müssen uns davon verabschieden in Deutschland, dass die guten alten Zeiten wiederkommen.“ Von den 27000 Jobs in der Autozuliefersparte hängen achtzig Prozent am Verbrenner. Bleibt das Verbot auf EU-Ebene, verschwinden die meisten davon. Der Wohnungsbau erreicht 2024 wahrscheinlich den historischen Tiefstand von 2009. Es verlieren in den kommenden Monaten und Jahren auch bisher gutverdienende Facharbeiter ihr Auskommen, Ingenieure und leitende Angestellte eingeschlossen. Wenn sich die Wut der Bauern, der Spediteure und Gastronomen mit der von Arbeitern verbindet, dann, so lautet meine Prophezeiung, die sich jeder grüne Kreisverband ausdrucken und ins Büro hängen sollte, kommen Verhältnisse, gegen die sich das Böllerzünden in Biberach und das Fensterklopfen von Hirschaid wie ein leichtes Säuseln ausnehmen werden, eine freundliche Warnung, ein Präludium. Kurzum, Zustände wie in Hirschaid, das werden für die Grünen dann die guten alten Zeiten von gestern sein, die ebenfalls nie zurückkehren. Dann kommt womöglich eine Ära, in der viele Abgeordnete, Angestellte und Projektmacher des grünen Komplexes ihre Anpassungsfähigkeiten zum ersten Mal im Leben beweisen müssen, weil Mandate, Verträge und Geldflüsse enden.
    Ein Redakteur der Süddeutschen, eben noch obenauf mit seinen Deportationsplänen für platzraubende Alte, später dann wirtschaftsbedingt vielleicht ohne Redakteursstelle und Budget für die Altbauwohnung, dürfte dann die Existenz von Archiven verfluchen. Nicht jeder Vermieter und jeder Arbeitgeber findet solche Leute sympathisch, auch wenn sie versichern, sie hätten es damals gar nicht so gemeint.

    Und was die Hoffnung angeht, zusammengetrommelte breite Bündnisse auf den Straßen könnten den Grünkomplex vor den Wütenden schützen: Sehr viele von denen, die gerade auf die öffentlichen Sophie-Scholl-Ähnlichkeitswettbewerbe gehen, gehören in irgendeiner Form zu den Gewinnern der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse, ob als Beschäftigte des öffentlichen Dienstes oder staatlich durchfinanzierter Organisationen oder als Postkolonialismus- und Politikstudenten, die noch selbstverständlich davon ausgehen, einen steueralimentierten Arbeitsplatz zu finden. Es könnte der Augenblick kommen, cito et velociter, an dem sich dieser Anhang einfach nicht mehr finanzieren lässt. Das nennt sich Wandel. Die Betroffenen sollten ihm aufgeschlossen begegnen. Ich drohe nicht. Ich klopfe nur ganz sacht an. Und will nur anmerken, dass es von der Antike über Renaissance bis in die Neuzeit immer wieder Augenblicke gab, in denen Heerführer und ganze Regionalmächte ihre Landsknechte nicht mehr bezahlen konnten. Die suchten sich dann andere Tätigkeitsfelder, auf denen sie ihre Verwüstungsspuren zogen, zausten aber meist ihre alten und nunmehr bankrotten Auftraggeber noch gehörig, bevor sie sich verabschiedeten.

    Der elfenbeinturmhohe Überbau steht immer auf einem materiellen Fundament, um das sich andere kümmern. Wenn dort unten die Wutströme zusammenlaufen, bleiben die Oberen meist nicht unberührt. Schon im deutschen Sozialismus ohne Westgeld waren Arbeiter und Bauern bekanntlich die Problembären. Und nicht die Funktionäre, die Wirtschaftsplaner, die hunderttausendfachen Inspekteure, Kontrolleure, die Kultur- und Medienschaffenden. Als deren hoher Bau am 17. Juni 1953 schon einmal gefährlich wackelte, saß Bertolt Brecht angeblich zusammen mit Kurt Barthel im Gebäude des Schriftstellerverbandes. Barthel nannte sich übrigens Arbeiterschriftsteller und – so lautete sein Künstlername – Kuba. Kein vernünftiger Arbeiter fasste seine Bücher an. Als beide die Rufe der Demonstranten hörten, die dem Gebäude näherkamen, meinte der Dialektiker Brecht: „Kuba, deine Leser kommen.“
    Um absichtlichen Missverständnissen entgegenzuwirken: selbstverständlich lehne ich Störaktionen und erst recht Gewaltakte gegen legale Veranstaltung aller Art ab. Nur meine ich eben, dass sich das Land gerade drastisch verändert, um Katrin Göring Eckardt noch einmal sinngemäß zu zitieren, allerdings so, dass sich vermutlich nur sehr wenige darüber freuen. Ich mache grundsätzlich nichts anderes als Ricarda Lang, Robert Habeck, Marcel Fratzscher und Patrick Graichen. Ich prognostiziere. In zehn oder auch nur fünf Jahren vergleichen wir die jeweilige Haltbarkeit unserer Voraussagen. Für das, was kommt, so meine jedenfalls ich, sollten sich die Grünen und ihr Umgebungsmilieu entweder einen sehr viel festeren Gemütspanzer zulegen als bisher, am besten nach Vorbild der Chavistas in Venezuela. Oder sich überlegen, ob sie nicht besser doch ein bisschen Veränderungsbereitschaft zeigen, was ihren Kurs angeht. Anderenfalls sammelt sich draußen vor dem grünen Haus irgendwann eine Menge, die nicht nur auf ihre Weise fensterln will.
    Dann heißt es: „Katrin, Ricarda, Robert: da kommen die Menschen, die ihr immer in die Zukunft mitnehmen wolltet.“

     

     

     

     

     


    Dieser Text erscheint auch auf Tichys Einblick.


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