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Thielemann unter russischer Regie: aufklärendes Schwarz und tönende Stille

Der neue „Ring“ an der Berliner Staatsoper, eigentlich ein Geschenk zu Daniel Barenboims 80. Geburtstag, fand unter der Leitung von Christian Thielemann statt. Gelingt die Tetralogie? Musikkritiker Matthias Nikolaidis entdeckte durchaus Schönheiten – und vermisste trotzdem die Seele des Werks.

von Matthias Nikolaidis

Jede „Ring“-Inszenierung heute steht vor der Aufgabe, diese in Wagners Werk aufgehobene Gattungsgeschichte mit zu inszenieren – oder das Werk selbst zu vergessen.

Die meisten Regisseure scheitern schon im Ansatz, weil sie unfähig oder nicht willens sind, dem Göttlichen einen Platz in ihren Konzeptionen zu geben. Am Ende soll gar noch ein Sänger-Schauspieler das Numinose verkörpern? Das geht nicht, schon gar nicht bei Wagner, dessen (vorgeblicher) Atheismus berüchtigt ist, und öfter mit einer Absage an das Numinose verwechselt wird, also das Göttliche, aber auch Unbegreifliche, oder, wie es bei Goethe heißt, Inkommensurable.

Zu den tiefen gattungsgeschichtlichen Wurzeln von Richard Wagners Dramen-Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ – vor knapp 150 Jahren in Bayreuth uraufgeführt – in ihrer gewaltig ausgestreckten Anlage gehört auch das alte Dramma per musica, zu dem Librettisten wie der heute fast völlig vergessene Metastasio (1698–1782) beitrugen. Am Anfang steht hier wie da die Welt der Götter (der Prolog der älteren Oper), am Ende eine Szene, in der deren Macht erneuert, manchmal sogar reformiert wird. Die Szenen dazwischen gehören den menschlichen, heroischen Figuren. Auf genaue Parallelen zwischen Metastasios „Didone abbandonata“ („Die verlassene Dido“; uraufgeführt am 1. Februar 1724 in Neapel, bearbeitet um 1750 in Madrid) hat die neuere Forschung verwiesen: In der hinzugefügten Finalszene dieser Oper stürzt sich die Protagonistin in brennende Ruinen, die bald vom aufbrandenden Meer gelöscht werden. Aus den schließlich siegreichen, bald besänftigten Fluten erhebt sich der „prachtvoll erleuchtete Palast Neptuns“. Der Himmel wird plötzlich heiter, und „der schauerlichen folgt eine anmutige Sinfonia“. Ähnlich wie Brünnhilde hat die Karthagerin Dido zuvor ihren geliebten Gatten an eine untreue Welt verloren.

Zurück von diesen Wurzeln, deren Erforschung bei Wagner immer lohnt, in die Berliner Bühnengegenwart: An der Berliner Staatsoper Unter den Linden durfte Regisseur Dmitri Tcherniakov einen Gratulations-Ring für Daniel Barenboim inszenieren – den der erkrankte Maestro (welcher in diesen Tagen sein achtes Lebensjahrzehnt beschließt) dann doch nicht selbst dirigieren konnte. Christian Thielemann, der von der sächsischen Kulturverwaltung auf unrühmliche Weise geschasste Chef der Dresdner Staatskapelle (noch bis 2024), sprang ein. Im Umfeld der Berliner Aufführungen wurde gemunkelt, dass Thielemann im fließenden Übergang an die Berliner Staatskapelle wechseln könnte. Einige nahmen den Applaus nach dem Vorabend „Rheingold“ und der „Walküre“ (Erster Abend) gar als Akklamation des Berliner wie auch des versammelten professionellen Publikums. Und in der Tat: Zur gleichen Zeit ging die Meldung um, dass Barenboim sich auf unbestimmte Zeit vom Dirigieren zurückzieht.

Erst im August war Barenboims Rückzug vom „Ring“ öffentlich geworden. Die Arbeiten an der Inszenierung dürften da schon weit fortgeschritten gewesen sein. Thielemann sprang also ein – und hinein in eine Produktion, die schon wohl auf ihrem Weg war. Wie deutet nun Tcherniakov den „Ring“?

 

Der kahle, schwarze Bühnenhintergrund als einzig konsistentes Symbol

Sein Ring will – wie so viele andere – eine Tetralogie für unsere Zeit sein. Und auf seine Art gelingt ihm das auch. Es ist der „Ring“ der kurzen Momente, die kaum zehn Sekunden dauern und dann unwiederbringlich vorbeigehen. Der „Ring“ der Gefühllosigkeit, mit der etwa der Forschungsleiter Wotan seine Geschöpfe, Kinder und Enkel in einem labyrinthischen Forschungszentrum traktiert. Ein „Ring“ der Unmenschlichkeit, der Menschenrechtsverletzung, die etwa Siegmund in der „Walküre“ widerfährt, als er im Kampf mit Hunding unterliegen soll.

Den Kampf selbst sieht der Zuschauer dabei gar nicht. Und das ist paradigmatisch für Tcherniakovs Regie. Bei ihm schlüpft Hunding in die Rolle eines Polizeibeamten, der in dieser Funktion natürlich eine Pistole besitzt, während Siegmund sich bekanntlich im I. Akt ein Schwert, Notung, sichern kann, wie es das Textbuch vorgibt. Tcherniakov bietet also nur eine halbe Werktreue. Bald setzt er die Symbole der vier Dramen ein, dann wieder verschwinden sie ohne jede Spur. Oder es passiert andersherum, er führt etwas Neues ein, allerdings auch ohne rechte Einbettung in das Drama.

Wie sieht ein Duell zwischen Schusswaffenbesitzer und Schwertkämpfer aus? Man weiß es nicht, vermutlich aber tödlich, eventuell komplex. Im II. Akt kommt es folglich zu einer abstrakten Mauerschau: Nur die Musik, die Stimmen der Kombattanten und Sieglindes phrenetisches Gesangs-Schauspiel (Vida Miknevičiūtė steuerte eine der vitalsten Stimmen der vier Abende bei) lassen uns das Duell erleben. Man kann sich nun vorstellen, wie ein verzweifelter Siegmund sein Schwert erhebt und von Hunding niedergeschossen wird. Aber das letzte Bild des Aktes ähnelt eher einer Gerichtssitzung, in der Wotan über das Schicksal der Kämpfer entscheidet. Hunding darf gehen. Siegmund wird von Spezialkräften in Schwarz verprügelt. Wir erinnern uns: In Chéreaus „Jahrhundertring“ von 1976 erledigt der von Fricka bedrängte Wotan Siegmund widerwillig und hinterrücks mit seinem Speer.

So findet auch der (russische?) Polizeistaat Eingang in diese Inszenierung, ohne dass das viel Sinn in Verbindung mit der Super-Erzählung Tcherniakovs ergäbe. Die geht nämlich so: Der Verhaltensforscher Wotan (ein bald parlierender, bald machtvoll aussingender Michael Volle) leitet das Forschungszentrum ESCHE, das tatsächlich einen achteckigen Raum umfasst, in dem ein einsamer Baum aus dem Boden ragt. Sollte dies die Weltesche des nordischen Mythos und des „Rings“ sein, dann dient sie eher als Dekoration. Gelegentlich lehnt sich Wotan verzweifelt an sie, dann wieder findet unter ihr heitere Kleinkunst statt. In der „Götterdämmerung“ verschwindet sie zugunsten eines Basketballkorbs in der ebenfalls neuen Nutzung als Turnhalle ganz.

 

Daneben gibt es übrigens nichts Natürliches in diesem „Ring“. Wir sehen nur Innenräume. Die einzige Gelegenheit für „lange“ und weitgestreckte Bühnenbilder, wie sie in der klassischen Opernregie regelmäßig mit „kurzen“ Innenräumen abwechseln, ist damit das Schwarz des Bühnenhintergrunds, das Tcherniakov auch einige Male einsetzen wird, etwa am Ende des II. und III. Aktes der „Walküre“, also in der Kampfszene und im „Feuerzauber“ beziehungsweise an dessen Ende.

Und die nackte, schwarze Bühne steht allerdings als Symbol, vielleicht das einzig konsistente, dieser Inszenierung: Sie verkörpert etwas Unbekanntes, Ungewisses, das immer wieder hinter dem teils banalen Geschehen auf der Vorderbühne hervorlugt. Die schwarze, kahle Bühne zeigt sich immer dann, wenn die Figuren das Gewöhnliche hinter sich lassen und zum Essentiellen vordringen.

Ende ohne Flecken: Brünnhilde entwindet sich dieser Tcherniakov-Welt

Es ist insofern ein nihilistischer „Ring“, und das zeigt sich auch am Ende der Tetralogie noch einmal sehr deutlich. Übrigens kann sich Tcherniakov hier durchaus an Wagner halten. Am Ende projiziert der Regisseur einige Verse auf den Bühnenhintergrund, die Wagner 1856 für den Schlussmonolog der Brünnhilde hinzudichtete, schließlich aber doch nicht vertonte. In ihnen findet sich die an Schopenhauer angelehnte Deutung des Dramenschlusses. Brünnhilde hat demnach „trauernder Liebe / tiefstes Leiden“ erfahren (hier weicht Wagner bekanntlich etwas von der reinen Schopenhauer-Lehre ab: Die Liebe ist bei ihm ein Weg zur Erlösung, bei dem Philosophen nur Ablenkung). Die Siegfried-Gattin ist daher bereit, „des ew’gen Werdens off’ne Tore“ hinter sich zu lassen, mit anderen Worten ins Nirwana einzugehen. Allen anderen empfiehlt sie in der Art einer religiösen Heilsbringerin dasselbe. Andernfalls drohten weitere Reinkarnationen.

Und in diesem Moment, am Ende der gesamten Tetralogie, tritt Brünnhilde erneut aus dem von Tcherniakov gebauten Bühnenbild hinaus und in den schwarzen Bühnenraum hinein. Sie lässt alle anderen Figuren hinter sich, um anscheinend zum ersten Mal wirklich frei zu sein. Auch einen künstlichen Waldvogel-Ersatz, wie er schon im „Siegfried“ verwendet wurde, den ihr nun die an dieser Stelle hinzugedichtete Erda anbietet, weist sie zurück. Sie wandert wie der Narr aus dem Tarot umher, bereit für neue Abenteuer, auch für neue Fehler.
Man kann nichts gegen Tcherniakovs Idee einwenden. Sie bleibt im Großen so wagner- wie dramenkonform. Aber die Frage bleibt bestehen, warum er ausgerechnet im wesentlichsten Moment des Werks nichts anderes als eine einsam wandernde Figur auf die kahle Bühne stellt und seine halbwegs komplexe Bühnenwelt einfach mitsamt Komparsen wegschiebt. So werden die vier Abende zu einer Annäherung an das Bühnenschwarz, vor dem die Episoden des äußerlichen Dramas, die Tcherniakov in 16 Stunden detailverliebt, wenn auch nicht immer ganz dramengerecht nacherzählte, in Bedeutungslosigkeit versinken.

 

Der „Ring“ unserer Zeit? Ja und nein

Christian Thielemann hatte etwas die Erwartungen an diesen Abend geweckt, indem er Tcherniakovs genaue Kenntnis von Text und Partitur lobte und die gute Zusammenarbeit mit dem Regisseur herausstrich. Tatsächlich schwangen Orchester und Bühne durchaus immer wieder zusammen. So vereinsamt die Figuren in Tcherniakovs Welt tendenziell sind, so einsam, still und objektiv klang die Musik aus dem Graben immer wieder.
Die einzelnen Szenen und Momente erscheinen oft als unverbundene Puzzleteile, nur lose miteinander assoziiert. Auch das – die Unverbindlichkeit der Menschen bis hin zur Unklarheit – muss man wohl als Zeichen unserer Zeit ansehen.

Trifft dieser „Ring des Nibelungen“ also genau ins Schwarze, ist er das Nonplusultra des zeitgenössischen Theaters, eine neue epochale „Ring“-Konzeption wie jene von Patrice Chéreau 1976 in Bayreuth? Das möchte man nicht sagen. Dazu ist er wohl auch zu eilig zusammengezimmert. Zu oft fällt der Mangel an Überlegung auf, auch an Bühnenproben. Und zu verstörend wirkt sich auch das Regiekonzept selbst am Ende aus.

 

Im wenig geliebten und dabei doch großartigen Stiefkind der Tetralogie, dem märchenhaften „Siegfried“, in dem ein Überheld seine Umwelt entdeckt, hing die Konzeption am merklichsten durch. Einen halben Abend lang musste man Banalitäten über sich ergehen lassen, die wirklich keinen Sinn mehr ergaben: Der zum Wanderer gewordene Forschungsleiter trinkt Tee mit Mime und Kaffee mit Erda, Siegfried lernt flöten nach Bildern, und zerschlägt einen Speer, den es zuvor gar nicht gab. Das Publikum bemerkt solche losen Enden aber sehr wohl. Auf den Gängen der Staatsoper hörte man es allenthalben, dass dieser Tcherniakov ja mit Wagner mache, was er will.

 

Sinn, Schönheit und Psychologie werden immer mehr zur Mangelware

Auch die Psychologie der Figuren, die im „Rheingold“ noch zu stimmen und erfassbar schien, sinkt mit der Zeit hinab, bis man sich vor Tänzen und um sich schlagenden Gesten nicht mehr zu retten wusste. Andere wunderten sich sehr ernsthaft, warum Schönheit eine so geringe Rolle in diesen Bühnenbildern spielt, die Tcherniakov selbst entworfen hat. Warum die Bühne gerade dann leer und schwarz wird, wenn es musikalisch am schönsten ist. Und die Opernszene täte wohl gut daran, dieses Plebiszit etwas ernster zu nehmen, als sie es gemeinhin zu tun pflegt. Niemand verlangt eine originalgetreue Inszenierung wie vor bald 150 Jahren, als der „Ring“ erstmals in Bayreuth über die Bühne ging. Aber die Regisseure wurden, so darf man ohne Zögern sagen, über die Jahre und Jahrzehnte der Inszenierungsgeschichte immer freier in ihrem Vorgehen. Das betrifft nicht nur den Grad der Abweichung vom Original (Quantität), sondern am Ende auch die Art, wie man den Werktext sieht. Heutzutage ist nicht nur eine Änderung soundsovieler Elemente der Originalhandlung mach- und denkbar, sondern die Aufgabe einer sinnvollen Fabel schlechthin, der normalen Zeitlichkeit des Dramas, von Logik und Kausalität. Mit anderen Worten: Die Menge der Veränderungen schlägt allmählich in Qualität um.

Der gewöhnliche Opernbesucher wird durch solche Experimente immer stärker herausgefordert und vor den Kopf gestoßen. Der scheidende Wiener Staatsoperndirigent Philippe Jordan hat das richtig erkannt: „Das Publikum hat eine richtige Sehnsucht, wieder einmal gutes Theater zu sehen und nicht nur irgendeine Fassung von Irgendjemandem über Irgendwas.“ Bei den meisten Regisseuren heute vermisst Jordan die gründliche Vorbereitung auf eine Arbeit. Ob das wirklich die Gründe sind, aus denen der noch recht junge Jordan nun in Wien hinschmiss, bleibt unklar. Aber sie waren wohl ein Teil seiner Schwierigkeiten mit einem ohnehin als schwierig geltenden Haus. Bedenkenswert scheinen seine Worte ohnehin: „Modernes Theater muss nicht notwendigerweise eine ästhetische Zumutung für das Publikum und sechs Wochen handwerklicher Dilettantismus für die Mitwirkenden sein.“

Nun ja, in Berlin vielleicht schon. Man nimmt derlei nicht so tragisch hier. Ein Projekt darf auch gern ein zielloses Work-in-progress sein, die ästhetische Erfahrung auch durchaus gebrochen. Das gehört sozusagen zum Charme dieser unordentlichen und unambitionierten Metropole. Aus dem Chaos soll ein tanzender Stern geboren werden. Nicht immer ist das aber eine Augen-, Ohren- und Sinnesweide.

 

Rolando Villazón überzeugte als komödiantischer Loge

Dabei ist dieser „Ring“ zum größten Teil ganz konventionell inszeniert, auch die üblichen Requisiten tauchen ja gelegentlich auf, wenn auch nicht wirklich konsequent. Insgesamt weist die Inszenierung so einige blinde Flecken, lacunae, auf. So gibt es – mangels Naturbildern – weder den Rhein noch einen eigentlichen Goldhort. Stattdessen befindet sich Alberich (Johannes Martin Kränzle als grandioser Musikdramatiker) als Versuchskaninchen im Stresslabor des Forschungszentrums. Die Rheintöchter-Laborassistentinnen unterziehen ihn dort einem Test und müssen feststellen, dass der Mann-Nachtalbe eine geringe Frustrationstoleranz besitzt. Er tickt schließlich aus, zertrümmert das Labor und schleppt einige Papiere und etwas Hardware mit sich fort.

 

Später treffen ihn Wotan und sein buffonesker Assistent Loge (wunderbar komödiantisch gespielt und fast genauso gut gesungen: Rolando Villazón) in seiner unterirdischen Werkstatt wieder, wo er mehrere Facharbeiter beschäftigt. Es sieht aus wie bei Zeiss in Jena, einzelne Arbeitsstätten an Tischen, von durchsichtigen Plastikwänden getrennt. Einen seiner Angestellten – Mime – hat Alberich mit der Herstellung einer Tarnkappe beauftragt. Die Tarnkappe scheint eine Art virtuelle Realität zu erzeugen. Wotan und Loge nutzen sie, um Alberich zu entführen: Sie überlassen den Werkstattchef seinen Illusionen, und bedienen sich dann einiger Pfleger, um ihn zu ergreifen.

In diesem „Rheingold“ hatten die unterschiedlichen Räume und Etagen dieses Forschungszentrums noch ihren Sinn, den sie aber an den folgenden Tagen verlieren. Schon in der „Walküre“ konnte der Zuschauer den Eindruck einer Hausbesetzung gewinnen, wenn etwa Siegmund und Sieglinde in der unterirdischen Zwergenwerkstatt Zuflucht suchen, wo ihnen auch die Todesbotin Brünnhilde erscheint. In der „Götterdämmerung“ werden die Räumlichkeiten dann wirklich von den Gibichungen besetzt, die aber wiederum nichts mit dem Forschungszentrum zu tun zu haben scheinen. Ein Jahrhundert-Ring ist das kaum. Man ist sich nicht sicher, dass er in dieser Form ein halbes Jahr auf dem Spielplan bleiben wird. Wenn doch, werden sich die kommenden Sängergenerationen wohl auch wie Hausbesetzer fühlen, die nicht recht verstehen, warum sie an diesem Ort gefangen sind, während sie einige der besten Dramen aus der Geschichte des Musiktheaters aufführen.

 

Tönende Stille in der „Walküre“: Wo das Denken nicht ständig zum Drama werden muss

Insgesamt darf man sich nicht zu sehr auf diese Bühnenrealität einlassen. Vieles ergibt keinen Sinn oder hält einem simplen Logiktest nicht stand. Man kann erleben, dass Tcherniakov jede Szene, ja jeden Vers und jede musikalische Wendung als eigenständigen Augenblick choreographiert, mit Gesten und Bewegungen, die angesichts einer gewissen Fragmentierung nicht weit tragen können. Wir wohnen also einer – zumindest inszenatorischen – Zertrümmerung der weiten Bögen bei, für die dieser „Ring“ eigentlich seit mehr als 100 Jahren bekannt ist.

Thielemann hat für die Musik eine sozusagen symmetrische Konzeption entworfen, indem er – wie es seine Art ist – viele Stellen neu erforscht, sie aus dem Notentext, nicht aus der Aufführungstradition mit frischem Leben erfüllt. Dabei besitzt Thielemann an sich genug Kenntnis der Werke, um die große Linie nicht aus dem Auge zu verlieren. Aber an diesen vier Abenden wollte es manchmal so scheinen, als ob ihn Tcherniakovs Spaltkonzeption von der Bühne beeinflusst hätte. Was natürlich überaus menschlich wäre.

So klingt der gefeierte Schluss der „Walküre“, der berühmte Feuerzauber Wotans, wie eine Abfolge disparater Musiken: Erst war da ein wahnsinnig wütender Wotan, dann ein zärtlich erweichter, dann Brünnhildes kindliche Lust am Feuer – welches sie selbst mit Filzstift und wedelnden Händen „inszenierte“ – schließlich ein kunstfertiges Melodiegewebe im Orchestergraben, das man früher (in anderen Inszenierungen) für die leibhaftigen Flammen des Feuerkreises halten konnte. Jetzt klingt es wie eine Spieluhr, die aus dem Graben ertönt, aber nichts mit der Bühne zu tun hatte, auf der sich Wotans Sitzungsaal zusehends von Brünnhilde entfernte. Es ist schon richtig, dass man Sitzungssäle wie diesen, auch mit aufgemalten Flammen, eher nicht braucht in einem „Walküre“-Finale. Aber ganz schwarz muss die Bühne deshalb auch nicht werden, um die Unbedingtheit von Wagners philosophisch-dramatischer Konzeption zu zeigen. Das konnten die Früheren eine Spur besser. Hier betritt der Nihilismus die Bühne leibhaftig.

Wie steht es um die Leistung der Sänger? Michael Volle singt den Wotan in der „Walküre“ passend zu Thielemanns tönender „Stille“ aus dem Orchestergraben im ausdauernden Parlando. Das war in der Tat eine ganz besondere Konzeption des Leidenschaftsdramas „Walküre“: Thielemann ließ den Mittelakt wie eine Konversationsoper avant la lettre dahinfließen, sehr privat und ohne dass das Denken ständig zum Drama werden musste. Allerdings fehlten so auch die stimmlich-orchestralen Akzente, um die Folge von Dialogen und Monologen besser zu gliedern. In „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ wechselt Volle dann fast durchgängig in die volle Stimme, was sicher auch dem erweiterten Orchester dieser beiden Werke zu verdanken war. Die Feinheit der Strukturen, die dynamische Gemächlichkeit von Thielemanns Dirigieren blieb aber auch hier erhalten. Thielemann legt sozusagen die Struktur von Wagners Musik offen, so dass man auch immer wieder hören kann, bei wem Wagner gelernt hatte, und wie er sein neues „Ring“-Idiom schuf. Die vier Abende erhielten so jeder seinen eigenen Klang, von leicht-heiter zu schwer-tragisch, mittendrin eine tieftraurige „Walküre“ und ein reichlich präpotenter „Siegfried“, sozusagen langsamer Satz und Scherzo dieser Symphonie in vier Musikdramen.

Kommen wir noch kurz zu den (neben Michael Volle) herausragenden Sängerdarstellern dieses „Rings“: Der finnische Bass Mika Kares bewies schon als eleganter Fasolt im „Rheingold“ und als brutaler Hausvater Hunding (vom Typ Alexander Lukaschenko) sein Können und seine Bühnenpräsenz. Als listiger Hagen setzte er seinem Berliner Ring-Auftritt die Krone auf, auch wenn einige Brutalitäten sicher unnötig waren, aber die dürften auf Tcherniakovs Konto gehen. Sein Riesenbruder Peter Rose konnte an zwei Abenden als gefühlvoller Fafner überzeugen (ja, bei Wagner hat sogar ein Lindwurm edle Gefühle). Robert Watson als Siegmund hatte etwas Pech, als er nach einer soliden Leistung mit seinem leicht dunkel timbrierten Tenor einige Buhs erntete, von denen er keines verdient hatte. Aber Vida Miknevičiūtė überstrahlte an diesem Abend wohl alles, auch wenn sie sich durchaus etwas hätte herunterdimmen können, nicht nur im Interesse des Ensembles.

 

Herausragende Waltrauten, „Aufklärer“ Thielemann

Herausragend außerdem die beiden Waltrauten, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Michal Doron in der „Walküre“ sang ihren Part in der Walkürenszene locker im Holzstuhl lehnend mit Souveränität und Strahlkraft. Die große Violeta Urmana rief in der „Götterdämmerung“ die Erinnerung an eine andere Sängergeneration (noch vor ihrer eigenen) wach, die Figuren mit echtem Pathos erschaffen konnte. Dazu braucht es nicht zuletzt einen Stimmansatz, der dem Augenblicksreiz entsagt um der größeren Kontinuität und Spannung willen, wie er heute allerdings kaum noch gefragt ist.

Vom Siegfried wird gemeinhin eher Naivität als Pathos gefordert, aber Andreas Schager, der hier ganz leicht zum agitierten Präsens neigte, zeigte durchaus Sinn für größere Bögen. Daneben ist sein Wagnertenor brillant, bisweilen gefühlvoll und kantabel, anscheinend aller irdischen Mühen enthoben. Das gilt leider nicht für die Brünnhilde dieser Tetralogie, Anja Kampe, die von Anfang an mit Teilen ihrer Rolle überfordert schien und in der „Götterdämmerung“ schließlich – wenn auch nur zwischendrin, im Racheterzett des II. Aktes – ernsthafte Ausfälle zeigte. Werden nach den Tenören nun die hochdramatischen Soprane knapp? Der Mangel könnte längst schon bestehen.

Was Christian Thielemann angeht, ist es interessant, wie anders er den „Ring“ mit der Sächsischen und der Berliner Staatskapelle dirigiert. Wo in Dresden ein gesättigter, samtwarmer Streicherchor die Basis für eine Verzauberung, Verklärung sondergleichen bildete, ist Thielemanns Berliner Klang karger, noch sachlicher als gewöhnlich. Er schien gelegentlich die letzten Reste Pathos aus der Musik zu pressen, um eine Art Unberührtheit wiederherzustellen wie bei der ersten Premiere. Das ist sicher hörenswert, kann aber gelegentlich etwas anstrengend werden. Ein gut gepolsterter Sitz kann auch hier helfen. Die Einsichten sind aber nicht zu verachten. Am Ende flossen die vier Aufführungen ziemlich gut und mit Spannung dahin. Ein Experiment bleibt dieser „Ring“, egal ob er in Forschungszentren spielt oder am Rhein.
Künftige Regisseure dürfen sich ruhig wieder etwas zurückhalten. Sie müssen nicht alles einreißen, von dem sie meinen, dass sie es nicht in ihre Visionen integrieren können.

 

 


Matthias Nikolaidis (Jahrgang77) ist Musikkritiker und freier Journalist und lebt trotz Einwänden in Berlin.
Redaktion:

Kommentare anzeigen (1)

  • "In „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ wechselt Volle dann fast durchgängig in die volle Stimme, was sicher auch dem erweiterten Orchester dieser beiden Werke zu verdanken war. "

    Was hat denn Wotan/Michael Volle in der Götterdämmerung zu singen- sei es parlando, mit halber oder mit voller Stimme?

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