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Nach Publico-Anfrage: Merkel und Seibert lassen „Hetzjagd“-Vorwurf fallen

In einer Antwort auf eine Anfrage von Publico lässt Merkels Sprecher Steffen Seibert den Vorwurf fallen, es habe am 26. August in Chemnitz „Hetzjagden“ gegeben. Diese Antwort – per Mail zugeschickt am 4. September – , so teilte eine Mitarbeiterin des Bundespresseamtes vorab telefonisch mit, beziehe sich auch auf die Äußerungen von Kanzlerin Merkel, die wortgleich von „Hetzjagden“ gesprochen hatte, zu der ihr „Videos“ vorlägen.

Seibert will seine Darstellung, es habe in Chemnitz „Hetzjagden“ gegeben, seiner Antwort zufolge auch nicht als Sachdarstellung verstanden wissen, sondern als nur als „politische Einordnung“.

Am 27. August hatte Regierungssprecher Steffen Seibert sich über die Ereignisse in  Chemnitz  am vorhergehenden Abend geäußert – über den Abend, an dem nach Polizeiangaben etwa 800 Menschen zu dem Spontankundgebung auf die Straße gegangen waren, um nach der Tötung eines jungen Mannes durch zwei abgelehnte Asylbewerber gegen  die Migrationspolitik der Regierung zu protestieren. In der Menge gab es auch nach Polizeischätzungen ungefähr 50 gewaltbereite Fußballhooligans und Rechtsextreme, die mit Hitlergrüßen und rechtsextremen Slogans auf sich aufmerksam machten. Aus der Menge heraus wurden drei Personen mit ausländischem Aussehen beleidigt, nach bisherigen Erkenntnisstand einer geschlagen. Auf einem kurzen Video, produziert von einer „Antifa Zeckenbiss“, sieht man einen einzelnen Mann, der drohend auf einen anderen Mann zuläuft und „was wollt ihr, ihr Kanacken?“ schreit.

Seibert hatte vor der Bundespressekonferenz allerdings nicht diese Fakten dargestellt, sondern noch wesentlich mehr behauptet:

„Was gestern in Chemnitz zu sehen war und stellenweise auf Video festgehalten wurde (…), das hat in unserem Rechtsstaat keinen Platz. Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens und anderer Herkunft, (…) das nehmen wir nicht hin.“

Bundeskanzlerin Merkel äußerte sich fast wortgleich:

„Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden gab, Zusammenrottungen (…)“

Beide stellten ihre Behauptungen von „Hetzjagden“ ausdrücklich in einen Zusammenhang mit Videos, die ihnen vorlägen.

Da entsprechende Videos bis dahin nicht aufgetaucht waren, fragte Publico am 31. August telefonisch bei dem Sprecher der sächsischen Generalstaatsanwaltschaft Wolfgang Klein nach. Klein antwortete:

Nach allem uns vorliegenden Material hat es in Chemnitz keine Hetzjagd gegeben.

Ebenfalls am 31. August stellte Publico eine Presseanfrage an Steffen Seibert und Angela Merkel und wollte wissen, auf welche Videos sie sich in ihren Aussagen beziehen.

Am 4. September antwortete das Bundespresseamt:

„Sehr geehrter Herr Wendt,

vielen Dank für Ihre Anfrage.

Regierungssprecher Steffen Seibert hat sich am Montag, 27. August 2018, in der Regierungspressekonferenz zu den Ereignissen in Chemnitz geäußert und die Vorfälle des Vortags politisch eingeordnet. 

Zu diesem Zeitpunkt existierten in den sozialen Medien bereits vielfach verbreitete Schilderungen der Geschehnisse, darunter auch eine Videoaufnahme, die zeigt, wie Demonstranten in aufgeladener Stimmung Migranten mit Sätzen wie „Haut ab!“, „Was wollt ihr, ihr Kanaken“ und „Ihr seid nicht willkommen“ nachsetzen und diese in die Flucht jagen.

Auch die „Freie Presse Chemnitz“ berichtete darüber, dass es aus der Demonstration heraus Angriffe auf „Migranten, Linke und Polizisten“ gegeben habe. 

Die Einordnung der Ereignisse von Chemnitz war schließlich am Montag, 3. September 2018, ein weiteres Mal Thema in der Regierungspressekonferenz. Regierungssprecher Steffen Seibert hat auf die Frage eines Journalisten wie folgt geantwortet:

„Ich werde hier keine semantische Debatte über ein Wort führen. Wenn die Generalstaatsanwaltschaft das sagt, dann nehme ich das natürlich zur Kenntnis. Es bleibt aber dabei, dass Filmaufnahmen zeigen, wie Menschen ausländischer Herkunft nachgesetzt wurde und wie sie bedroht wurden. Es bleibt dabei, dass Polizisten und Journalisten bedroht, zum Teil auch angegriffen wurden. Es bleibt dabei, dass es Äußerungen gab, die bedrohlich waren, nah am Aufruf zur Selbstjustiz. Also da gibt es aus meiner Sicht auch nichts kleinzureden.“

Quelle: „ein Regierungssprecher“ (ohne Namensnennung)

 

 

Damit stellt Seibert klar, dass er und Merkel sich auf Material gestützt hatten, das „in den sozialen Medien“, also im Internet kursierte. Publico hatte auch die Frage gestellt, ob Seibert vor seinem Gang zur Bundespressekonferenz am 27. August Kontakt mit der Polizei Chemnitz oder einer zuständigen Staatsanwaltschaft aufgenommen hatte, um sich Informationen geben zu lassen. Auf diese Frage geht das Bundespresseamt nicht ein. Implizit heißt das also: nein.

Das Presseamt nennt zwar – anders, als Publico angefragt – nicht direkt das Video, auf das sich Seibert und Merkel bezogen. Aber anhand der Tonspur, die in der Antwort wiedergegeben wird –„Haut ab!“, „Was wollt ihr, ihr Kanaken“ und „Ihr seid nicht willkommen“ – ist es identifizierbar als das 19 Sekunden lange Video der „Antifa Zeckenbiss“, das einen einzelnen Mann zeigt, der auf einen anderen drohend zuläuft. Andere Video-Quellen nennt die Antwort an Publico nicht. Dass das Zurennen einer Person auf eine andere und beleidigende Rufe keine Hetzjagd darstellt, schon gar keine im Plural: dazu ist tatsächlich keine semantische oder sonstige Analyse nötig.

Etwas merkwürdig mutet an, dass das Bundespresseamt in der Antwort auch mitteilt, die Chemnitz „Freie Presse“ habe berichtet, dass es am vorvergangenen Sonntag in Chemnitz zu einzelnen Übergriffen aus der Menge heraus gekommen sei. Genau das hatte Publico in seinem Text auch geschrieben. Hitlergrüße und Übergriffe sind ohne Zweifel strafbar und empörend, Beleidigungen auch.

Einzelne Übergriffe aus einer Menge von Demonstranten heraus, Angriffe auf Polizisten – das geschieht auf sehr vielen Demonstrationen, ohne dass sich Bundeskanzlerin und ihr Sprecher dazu äußern würden. Die Angriffe auf Polizisten im Hambacher Forst mit Steinen und Molotowcocktails an dem gleichen vorvergangenen Sonntag durch linksradikale Täter waren übrigens sehr viel härter ausgefallen als in Chemnitz, ein Beamter musste ins Krankenhaus. Diese Angriffe waren von Seibert überhaupt nicht erwähnt worden.

Nach Publico-Informationen hatten sich nach ihrem Einsatz in Chemnitz am 26. August zwei Polizeibeamte als leicht verletzt gemeldet – einer von ihnen, weil er mit dem Knöchel umgeknickt war.

Die BILD vom 4. September erwähnt die Anfrage von Publico bei der sächsischen Generalstaatsanwaltschaft in einem Beitrag mit der Überschrift „gab es wirklich keine Hetzjagd?“.

Darin schreibt BILD:

„Seltsam: Ausgerechnet der Staatsanwalt lehnt sich in so einer sensiblen Frage, die von der ganzen Welt beobachtet wird, weit aus dem Fenster – obwohl er selbst zugibt, noch nicht alle Videos gesichtete zu haben ‚nach allem uns vorliegenden Material – was bis zur vergangenen Woche von den Kollegen gesichtet worden ist – hat es in Chemnitz keine Hetzjagd gegeben’, sagte Oberstaatsanwalt Wolfgang Klein zunächst zu ‚Publico’.“ Was BILD daran „seltsam“ findet, erschließt sich nicht recht. Klein hatte den vorläufigen Ermittlungsstand dargestellt. An ihm hat sich bis jetzt nichts geändert. Seine Behörde ist zuständig. Dagegen sind weder das Bundeskanzleramt noch das Bundespresseamt Ermittlungsbehörden. Trotzdem hielten sie es für richtig, die hoch dramatische Vokabel „Hetzjagden“ – gestützt auf das „Zeckenbiss“-Video – als höchstamtliche Tatsache auszugeben. Um nur auf Nachfrage die vermeintlich faktengestützte Darstellung zur „politischen Einordnung“ – um es mit Seiberts Worten zu sagen – „kleinzureden“.

Bleibt noch eine Frage: Wie kommt es, dass nach einem Ereignis wie in Chemnitz, über das weltweit berichtet wurde, offenbar nur Publico bei der zuständigen Ermittlungsbehörde detailliert nachfragte?

 

 

 

 

Alexander Wendt: Weitere Profile:

Kommentare anzeigen (63)

  • Was erlauben, Wendt? Wenn der gesamte politisch-mediale Apparat (milliardenschwer) auf Hetzjagd gegen "Dissidenten" von rechts der Mitte eingestellt, eingenordet (darf man das noch sagen?), ausgerichtet ist, ist doch allein die Nachfrage nach dem, wie es "eigentlich gewesen" ist (Leopold von Ranke) schon eine ungeheure Frechheit. Es ist doch in Deutschland (gottfroh, daß ich in Österreich lebe) wichtig, wie etwas zu sein hat, nicht wie es eigentlich war. Die "Herrschaft des Unrechts" kann doch per se nicht zulassen, daß sie hinterfragt wird. "Hinterfragen" (ich erinnere mich) war vorgestern, jetzt ist "wir schaffen das", und wenn wir uns dabei abschaffen. Der "Geistesmensch" (Thomas Bernhard) kann sich nur noch darauf zurückziehen: "Et si omnes, ego non!"
    Prof. Mag. Peter Meier-Bergfeld M.A., Studienrat a.D. ,Hochschullehrer, Publizist, Ritter des St. Georgs-Ordens

  • Sehr geehrter Herr Wendt,

    einfach nur Danke! für die unaufgeregte und rationale Recherche und Berichterstattung. Es ist mir, und offensichtlich nicht nur mir, nur unerklärlich wieso diese im Grunde einfache und doch notwendige Recherche von den restlichen Medien nicht erbracht worden ist. Die gründliche journalistische Arbeit ist damit offensichtlich Ihr Alleinstellungsmerkmal unter allen deutschen sogenannten bzw. selbsternannten Journalisten.
    Mit freundlichem Gruß

    • Gerhard Lenz

      Schließe mich Ihrem Dank an Herrn Wendt und Ihrer Einschätzung eines flächendeckenden Medienversagens an. Das Zurückrudern des Regierungssprechers empfinde ich als erbärmlich.

    • Mir ist es keineswegs "unerklärlich wieso diese im Grunde einfache und doch notwendige Recherche von den restlichen Medien nicht erbracht worden ist."

      • Denken Sie an die Unterstützung, meine Damen und Herren. Der beste Dank ist der, für den man sich was kaufen kann.

        • "Der beste Dank ist der, für den man sich was kaufen kann."

          Das denke ich nicht. Aber natürlich haben Sie recht mit Ihrem Aufruf zur Unterstützung!

    • Auch ich danke Ihnen, Herr Wendt, für Ihren Mut und Ihre Courage, die Lügen von Bundesregierung und Medien aufzudecken und eine Richtigstellung zu verlangen. Daß sie als Einziger den Kampf mit der Hydra aufnehmen, bewundere ich.

      An die Mitkommentatoren und Leser von Publico richte ich die Bitte, durch Spenden den Erhalt und Ausbau dieses Mediums der freien Rede und des unzensierten Denkens zu sichern.

  • P - wie Propaganda? Dass ich das noch erleben muss. Aber das Schlimmste: jede mögliche Antwort auf die letzte Frage - lässt schaudern.

  • Also ich habe hier ein gutes Beispiel für tätlichen Angriff:
    https://www.moz.de/artikel-ansicht/dg/0/1/1677266/
    Ich habe ein Radiointerview dazu gehört, unter anderem hat sich dazu auch der Oberbürgermeister von Frankfurt/O geäußert, also nehme ich an, es ist keine Zeitungsente.
    Also wirklich passiert und belegbar.
    Aber das ist natürlich höchstens von lokalem Interesse.

  • Es läuft hierzu eine Petition:

    https://www.change.org/p/bundesregierung-frau-bundeskanzler-bitte-belegen-sie-ihre-behauptungen

    Mit den Ihnen gegebenen Auskünften darf man sich nicht zufrieden geben. M.E. müssen auch juristische Schritte geprüft werden. Es kann nicht sein, dass ein derartig evidenter Schaden letztlich für ganz Deutschland einfach mal so nebenbei herbeigeplappert wird und dies überhaupt keine Folgen hat! Es ist schlicht ein Witz, dass nun behauptet wird, die Demos hätten der Wirtschaft geschadet, wobei inzwischen jedem klar sein sollte, dass dies nur auf die völlig verzerrte Berichterstattung hierzu zutrifft. Offenbar sind es in diesem Land nur noch Exoten (wie Sie Herr Wendt), die ihren Verstand benutzen.

    Danke!

    • Ich habe heute gelesen, dass die Kanzlerschauspielerin auf ihrem Standpunkt beharrt, dass es doch Zusammenrottungen und Hetzpogrome gegeben hat.

    • Frau Merkel sagte, sie hatte Recht und "Basta". Auf dem Welt-Artikel dazu, eingestellt die Nacht kurz nach drei, überschlagen sich die Kommentatoren. Stand heute 6.00 Uhr: Über 1.500 Kommentare!
      Das muss der Dame erst mal einer nachmachen! Ich allerdings frage mich, was bezweckt sie damit? Es MUSS doch einen Plan geben! Oder bin ich völlig meschugge, wenn sie mich an Honecker in den letzten Tagen der DDR erinnert?

  • Ich lese: "Wie kommt es, dass nach einem Ereignis wie in Chemnitz, über das weltweit berichtet wurde, offenbar nur Publico bei der zuständigen Ermittlungsbehörde detailliert nachfragte?"

    Sie sind das neue "Sturmgeschütz der Demokratie", sozusagen. Während die an der Ericusspitze 1 in Hamburg tätigen Volontäre offenbar nicht mitbekommen haben, was es mit der Frakturschrift so auf sich hatte, und wer sich ihrer entledigen wollte.

    DANKE!

    • Die gleiche Anfrage hat nun auch Herr Broder auf der Achse an Herrn Seibert gestellt.
      Als Antwort die identische und schwammige Erklärung.
      Kurzum, es scheint so, dass man, egal ob "normaler" Bürger oder auch kritischer Journalist in Berlin einfach nicht mehr ernst genommen wird.

  • Die Frage wurde Ihnen doch schon beantwortet: Es dient der politischen Einordnung, lieber Herr Wendt!
    Sonst wissen die Menschen doch nicht, was sie denken sollen. :)

    Danke vielmals für Ihre Arbeit!

  • "Politische Einordnung"...
    Was für eine dämliche und zugleich erbärmliche Ausrede. Seibert ist nicht die einzige Person im Berliner Politzauberkasten, der das Rückgrat fehlt einen Irrtum/Fehleinschätzung zuzugeben.

    • Gerade in dieser Woche musste ich feststellen, dass sogar intelligente Leute geglaubt haben, was Merkel und Seibert von sich gegeben haben. Da wird sogar ein Vortrag vorbereitet, wie man sich gegen angebliche Nazis schützt. Einfach nur unerträglich!

  • Interessant wäre doch jetzt die Frage, ob der Bundeskanzler respektive Regierungssprecher nach dieser Einsicht bereit zu einer Gegendarstellung ist, die dann als solche an vergleichbarer Stelle der Welt zugänglich gemacht wird, um die Reputation von Chemnitz annähernd wiederherzustellen.
    Und die Bitte um Entschuldigung an die Chemnitzer und die Sachsen überhaupt darf vom Hohen Hause erwartet werden.
    Rudi Ratlos