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Wochenrückblick: Wann Merkel zur Frau wurde. Und andere gute Buchtitel

Der Spiegel überprüft gerade die Texte seines berühmtesten Ex-Mitarbeiters. Dabei stießen die nachträglichen Faktenchecker auch auf den Umstand, dass Claas Relotius’ Beitrag für den Klimakatastrophentitel „Was der Erde droht. Und was wir tun können“ wie Literatur wirkt (so irgendwann ein Preisjurymitglied über ein anderes CR-Werk) beziehungsweise überhaupt Literatur ist, wenn auch nicht gerade Reiseliteratur.

Denn Relotius flog für seinen Beitrag gar nicht in den Südsee-Inselstaat Kiribati, der speziell in deutschen Medien schon seit Jahren als Untergangskandidat gehandelt wird, sondern blieb, wie sich jetzt herausstellte, in Los Angeles und dachte sich dort (Chateau Marmont?) seine hautnahe Reportage aus. Relotius kam nur bis Los Angeles wäre zweifellos ein guter Buchtitel, und für eine ordentliche Flasche Chateau d’Yquem entschlage ich mich aller Ansprüche.

Auf Achgut seziert Uli Kulke ausführlich die Relotius-Geschichte „London, Paris und Polen sind untergegangen“ (bei London, Paris und Polen handelt es sich um kiribatische Siedlungen); er erklärt, warum keiner der genannten Orte tatsächlich untergegangen ist, auf welche exquisite Weise Relotius zum Namen seines Protagonisten kam – und warum selbst die Korrekturmitteilung der Spiegel-Redaktion über die Fabrikation seines Reporters a. D. einen ziemlichen großen Haken enthält, oder wie es heute heißt: ein Narrativ.

Aber ernsthaft: glaubt irgendjemand, die Zulieferung des Hamburger Goldjung hätte auch nur ein Deut anders geklungen, wenn er wirklich in die Südsee geflogen wäre? Anschauung verdirbt zwar das beste Narrativ, aber wer sagt denn, dass er sich außerhalb von seinem Hotel in London (übrigens mit 2000 Einwohnern der zweitgrößte Ort im Staat Kiribati) mehr als die örtliche Oxford Street angesehen hätte, um sich dann zum Schreiben zurückzuziehen? Mit seiner Entscheidung, gleich in L.A. zu bleiben, sparte Relotius eine Fantastillion Gramm Kohlendioxid, wahrscheinlich sogar mehr. Das sollte man ihm zugutehalten beziehungsweise in die Laudatio des Greta-Thunberg-Preises für vermiedene Recherche einflechten.

Dass es den Daheimgebliebenen unter Narrativgesichtspunkten nur Scherereien bringt, wenn jemand wirklich in Gegenden fliegt, die seit Jahren untergehen und nicht Venedig heißen, zeigt übrigens die Geschichte des Ozeanologen Axel Mörner, der sich einmal an Ort und Stelle auf Fidschi die Meeresspiegel-Messstationen anschauen wollte, deren Werte in den IPCC-Klimabericht einfließen. Wenn man dort ist, wirkt alles etwas anders, diesen Effekt kennt man auch aus dem Vergleich von Katalog und Strandhotel. In diesem Fall allerdings mit umgekehrten Vorzeichen: Am Fidschi-Strand sieht es dann doch weniger schlimm aus als auf dem Papier. Mörners Schlüsselsatz Korallen lügen nicht gäbe jedenfalls einen prima Krimititel ab.

Was uns zum nächsten Titelkandidaten resp. Kandidatin bringt. In der eben verwichenen Woche besuchte ZEIT-Autorin Jana Hensel die Kanzlerin, um ein Interview mit ihr zu führen beziehungsweise das journalistische Genre neu zu definieren. Hensel hatte vor dem Kanzlerinnengespräch schon einen Artikel über Angela Merkel und sie, Jana Hensel geschrieben (beziehungsweise umgekehrt), der Maßstäbe setzte beziehungsweise sprengte:

„Aber dennoch, Merkels spröder Glanz, ihr so unglamouröser Glamour hat auch auf jene abgefärbt, die ihn stets bestritten haben. Wir alle wurden größer darin.

Mein Deutschland-Gefühl, es ist in Wahrheit ein Angela-Merkel-Gefühl. Ich bin in dieses Gefühl eingezogen wie andere in ein Haus. Ich habe darin genauso selbstverständlich gewohnt wie auch das Kind. Es ist uns mit den Jahren wie zu einer zweiten Haut geworden. Ist es nicht das, was wir Heimat nennen? Ist es nicht das, wonach wir immer suchen, wonach wir uns sehnen?“

Der Ton erinnerte ein wenig an die ganz, ganz frühe Luise Rinser, und schon deshalb hätte die ZEIT-Chefredaktion merken müssen, dass es eine sehr, sehr schlechte Idee wäre, ausgerechnet die Autorin dieses Poesiealbenschmuckblattes zur Kanzlerin zu schicken. Sie ging aber doch, um dort das Interview folgendermaßen einzuleiten bzw. zu –läuten:

„Frau Bundeskanzlerin, als Sie verkündet hatten, sich vom CDU-Vorsitz zurückzuziehen, habe ich in der ZEIT einen sehr persönlichen Abschiedstext geschrieben.“

Noch in derselben Textspalte folgt die Frage: „Sind Sie im Amt zur Frau geworden?“

Worauf Merkel, die unter Hensels Fragen bzw. Anwesenheit ein wenig zu leiden scheint, antwortet: „Nein, im Amt sicherlich nicht, ich war ja schon vorher eine Frau.“

Ich war schon vorher eine Frau – auch das hat zweifellos Titelformat. Aber auch: Ich zog in das Merkel-Gefühl ein wie in eine zweite Haut. Ohne Mietpreisbremse.

Sollte jemand in nächster Zukunft den Zustand der deutschen Medien in den späten Zehner Jahren dokumentieren und dabei Papier sparen wollen wie Claas Relotius weiland Flugmeilen: Er (oder sie) bräuchte nur dieses eine Interview abzuheften.

 

 

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Kommentare anzeigen (21)

  • Da Sie die linkskatholische Courths-Mahler erwähnen, nur eine kleine Ergänzung am Rande: es ist nicht nur die frühe Rinser mit ihren Führergedichten, es ist auch die reife Rinser mit dem "Nordkoreanischen Reisetagebuch" 1981, die einen Einblick in die im Kern totalitäre Geistesverfasstheit einer Vertreterin literarischer Edeldemokraten gewährt. Na ja - Bundespräsidentenkandidatin der Grünen war sie ja auch.

    • Als die Titanic noch ein 1a Satiremagazin war und keine linksextreme Belobhudelungsgazette für die Grenzöffner, taufte Eckhard Henscheid Luise Rinser sehr treffend in "Ruine Linser" um, was mich bis heute amüsiert.

  • Bald fangen die Kleinen in der Kita an zu beten:
    "Händchen falten, Köpfchen senken,
    immer an Frau Merkel denken.
    Die uns Heimat gibt und Brot,
    uns errettet aus der Not."
    Hatten wir so ähnlich ja schon mal....

  • Jana Hensels "Deutschlandgefühl": Deutschland als „Große Mutter“, von der man sich im Zuge des Erwachsenwerdens nicht lösen, von deren Lebensumriß und -gestaltungsweise man sich nicht emanzipieren muß. Stattdessen eine Art inverser Nationalismus: Deutschland als riesige Gebärmutter – symbolisiert durch die Haltung/das Verhalten der Person Merkel –, welche sich der regressiven Bewegung, der Lebensflucht öffnet und so „wie eine zweite Haut“ eine eigene Identität vorspiegelt.

  • Ich habe jetzt nicht das Original-Interview bzw. den Hensel-Artikel gelesen. Das Wenige hier Zitierte hält mich gleich auf Abstand dazu, wie ich sowieso die "Zeit" bis etwa Anfang der 2000er (seit 1991) gern las, dann aber das Abo generell kündigte und nicht einmal mehr hier und da ein Einzelexemplar kaufte, inhaltlicher Probleme wegen. Ich fand einen schleichenden Übergang von bildungsbürgerlichen zu agitatorisch-indoktrinieren-wollenden Inhalten für mich heraus, ein ständiges klandestines "Stimmungmachen" und "Verbeugen", das mich abstieß.
    Was Sie hier aufgreifen und zu Recht angreifen, bestätigt mir das wieder einmal, nur dass dieses Verhalten der Autoren dort vordergründiger, plumper und auch mE dümmer als zu Zeiten meines Entschlusses, die "Zeit" nicht mehr zu goutieren, geworden ist.
    Spießen Sie Derartiges weiter so auf! Einer muss über das Kuckucksnest fliegen...

    • Nach dem Weggang Roger de Wecks mutierte Die Zeit zur obersten Gralshüterin des deutschen Feminismus. Männer sind doof, und Frauen können alles besser - das war die Essenz jedes dritten Artikels, mal mehr, mal weniger versteckt. Das war für mich der Anlaß, mein Abo zu kündigen. Die quasireligiösen Verehrungsfloskeln der Frau Hensel zeigen mir, daß das Blatt seitdem positionstreu geblieben, lediglich etwas infantiler geworden ist.

    • Ich habe den Eindruck, dass Sie die taz skizzieren... ;-) Genau die habe ich vor längerer Zeit aus sehr ähnlichen Gründen gekündigt - sie wurde mir doch zu arg political correct mit zum Teil unglaublichen Beiträgen. Die versteckten Bösartigkeiten z.B. bei Interviews und Berichten über die Linken und hier explizit Dr. Sahra Wagenknecht stoßen bei mir auf völliges Unverständnis - Menschen und Parteien mit Rückgrat scheinen bei der taz nicht mehr gefragt zu sein. Und das bei einer ehemals linken Zeitung.

  • "Der Ton erinnerte ein wenig an die ganz, ganz frühe Luise Rinser." Oh, das war böse! Aber nichtsdestotrotz leider richtig. Apropos ZEIT: Nix Neues aus Hamburg. Ich kenne die Zeitung ja noch aus den unsäglichen Dönhoff-Zeiten, die Gräfin, die immer damit kokettierte, sich damals "in Wiederstandskreisen" bewegt zu haben, was der frühere langjährige ZEIT-Feuilleton-Chef Raddatz in seinen Memoiren klar wiederlegte (nur deshalb hatte ich mir sein Buch gekauft). Auch ihr Hass auf Konrad Adenauer war legendär. Dagegen fand sie die DDR (schon lange ohne Gänsefüsschen bezeichnet, als andere Medien noch "DDR" schrieben) und ihre Repräsentanten eigentlich ganz nett, mit denen könne man reden, wenn man nur wolle. Bei der Vergötterung des SPIEGEL hat sich bei den Journalisten nichts geändert: gestern war einer von diesem Relotius-Märchen-Magazin im ARD-Presseclub und wurde vom Moderator (der am Wahlabend immer die Zahlen vorliest) ganz devot als Redakteur des "Nachrichtenmagazins" (!!) SPIEGEL vorgestellt.

  • Ich weiß gar nicht was Sie wollen. Es geht doch um Teilhabe. Selbst diejenigen, welche nur irgendetwas mit Germanistik oder Kultur studiert haben haben doch ein Recht auf Teilhabe. Ihre Absonderungen gehören doch veröffentlicht, sonst wäre es doch keine echte Teilhabe. Viele wollen doch dieses Niveau, das sieht man doch allenthalben im Free-TV und der heutigen Aktuellen Kamera.

  • Die Lektüre der ZEIT haben wir Ende 2015 aufgekündigt, und Interviews mit der Kanzlerin meiden wir, weil uns die Zeit zu schade ist und die Nerven geschont werden. Sie haben uns mit Ihrem treffenden ironischen Beitrag darin bestätigt. Vielen Dank dafür.

  • Zitat: „Aber dennoch, Merkels spröder Glanz, ihr so unglamouröser Glamour hat auch auf jene abgefärbt, die ihn stets bestritten haben. Wir alle wurden größer darin.

    Mein Deutschland-Gefühl, es ist in Wahrheit ein Angela-Merkel-Gefühl. Ich bin in dieses Gefühl eingezogen wie andere in ein Haus. Ich habe darin genauso selbstverständlich gewohnt wie auch das Kind. Es ist uns mit den Jahren wie zu einer zweiten Haut geworden. Ist es nicht das, was wir Heimat nennen? Ist es nicht das, wonach wir immer suchen, wonach wir uns sehnen?“

    Dies ähnelt der Verehrung einer Magda Goebbels für ihren geliebten Führer!

  • Ja, da ist sie wieder, diese devote Anbiederung an die Macht in der Hoffnung, die eigenen Privilegien ausweiten zu können. Und das in einer "linksliberalen" Wochenzeitung von einer vermutlich sich als "Linksliberale" sehenden Schurnalistin (!).

  • Die Merkel-Bewunderer*innen der ZEIT – wirklich verwegen! Hier noch eine, mit intersektionalem Bonus:

    == == ==
    - Kiyaks Deutschstunde / Angela Merkel -
    Eine Kolumne von Mely Kiyak

    Sie steht noch einmal auf und winkt

    Angela Merkel hält ihre letzte Rede als CDU-Vorsitzende. Und man meint plötzlich zu begreifen, was die Quelle ihres Langmuts und ihres Nervenkostüms gewesen sein könnte.
    == == ==

    „Die Quelle ihres Nervenkostüms“ - sprachlich verrutscht hebt ausgerechnet die „Deutschstunde“ einer der „stolzen“ neuen Deutschen an. Schiefe Bilder und andere sprachliche Ungelenkheiten fallen bei diesen Medienschaffenden „neuer deutscher
    Identität“* nicht ins Gewicht - hofiert und gut dotiert wirkt wohl der spezielle Vordergrund im Hintergrund.
    Aber dabei bleibt es nicht: „ob hier noch die Rede von Angela Merkel oder dem Propheten – Friede auf seinem Namen – ist“, schreibt Kiyak.

    „Friede auf seinem Namen“? Wer spricht? Oder spielt sich da beim uneingeweihten Leser auch einfach nur der fehlende Hintergrund in den Vordergrund?

    https://www.zeit.de/kultur/2018-12/angela-merkel-cdu-parteitag-letzte-rede-hamburg-kramp-karrenbauer/komplettansicht

    *Apropos verrutscht - wo das Narrativ zählt, „Theodor Fontane […] ein Dichter mit Migrationshintergrund“ war und die Türken die neuen Hugenotten sind: https://www.vorwaerts.de/artikel/neue-deutsche-identitaet