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„Der Bürger ist der Selbsternannte“

Am 23. November erhielt Alexander Wendt den von der Förderstiftung Konservative Bildung und Forschung aller zwei Jahre vergebenen Gerhard-Löwenthal-Preis.
Publico dokumentiert die Dankesrede.

 

„Lieber Dieter Stein, lieber Alex Baur, ich danke sehr für die Verleihung des Gerhard-Löwenthal-Preises, ich danke Alex Baur für seine sehr freundliche Laudatio.

Der Löwental-Preis trägt gewissermaßen als Unterzeile den Hinweis, dass er für liberal-konservative Publizistik verliehen wird. Seit einiger Zeit begegnen uns sehr viele Texte, die der Frage nachgehen: „Was ist konservativ?“ Von der Paarung liberal-konservativ ist auch öfter die Rede; praktisch kommt sie in Deutschland schon deshalb selten vor, weil die Liberalität hier immer nur einen schmalen Platz behaupten konnte, egal in welcher Ausprägung. Denn ihr Konzept mutet dem Einzelnen, dem Bürger, erheblich mehr zu, als es andere Gesellschaftsentwürfe tun. Und keine Instanz mutet es einem Bürger zu, Bürger zu sein. Er muss es selbst tun.

Jemand, der liberal und konservativ sein möchte, steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden, allerdings besteht dieser Boden aus zwei treibenden Schollen, mit jedem Bein steht er auf jeweils einem der beweglichen Untergründe. Diese Lage fordert von dem, der so steht und treibt, ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit. Aber bevor ich darauf komme, warum ich mich in diese Lage gebracht habe und sie sogar für gut halte – für sonderlich komfortabel halte ich sie nicht – , will ich über Gerhard Löwenthal sprechen.

Als er 2002 starb, schrieb der Spiegel in seinem Nachruf: „Kein anderer Nachkriegsjournalist spaltete das geteilte Land auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs so wie Löwenthal.“
Löwenthal – beziehungsweise das, was von ihm auch heute noch ausgeht – spaltet zumindest die Wikipedia-Einträge zu seiner Person, deren englischer sich deutlich von dem deutschen unterscheidet. Auf Englisch heißt es:
„Gerhard Löwenthal was a prominent German journalist, human rights activist and author. He presented the ZDF-Magazin, a news magazine of ZDF which highlighted human rights abuses in communist-ruled Eastern Europe.“
In dem deutschen Ableger heißt es:
„Gerhard Löwenthal war ein deutscher Journalist. Von 1969 bis 1987 leitete und moderierte er das ZDF-Magazin.“

„Humans rights activist“ – diese Formulierung für jemanden, der sich im politischen Spektrum rechts befand, kommt heute möglicherweise noch weniger Leuten über die Lippen als damals in den siebziger Jahren, also im Kalten Krieg, der ja seit 1990 offiziell als beendet gilt.
Gerhard Löwenthal traf gleich zum Anfang seiner Laufbahn als Publizist die wichtigste konservative Entscheidung seines Lebens, die später auch seiner Autobiografie den Titel gab: „Ich bin geblieben.“ Er blieb, was er sein wollte, ein deutscher Jude, ein Bürger in Deutschland, obwohl ihm andere genügend Gründe gegeben hatten, dieses Land zu verlassen. Er blieb Bürger in Deutschland, und er wurde ein Journalist, der sich in seinen ersten Beiträgen für den RIAS schon in den späten Vierzigern gegen die Stalinisierung in Ostdeutschland wandte. Für beides, für das Bleiben wie für seine Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus entschied er sich, weil er es wollte, nicht, weil er es nach dem Willen einer äußeren Instanz gemusst hätte.

Ich hatte am Anfang von zwei treibenden Schollen gesprochen, auf denen ein Liberalkonservativer sein Gleichgewicht auszutarieren hat. Um ihn herum treiben Schollen ganz anderer Größe, bei denen es sich um Bruchstücke älterer Formationen handelt. Die identitätspolitische Linke der Gegenwart besteht aus mehreren Bruchstücken, die sich neu und paradox zusammengefügt haben. Mit der klassischen Linken hat sie kaum noch etwas gemein.

Diese klassische Linke war durch viele Schwächen und eine spezifische Blindheit geprägt. Sie kannte praktisch keine Liberalität, sie überschätzte die Ökonomie als eigentliche Gesellschaftsgrundlage, Kultur samt Religion galt ihr nur als Überbau. Aber als Ziel definierte sie die Überwindung der Verhältnisse, die sie anklagte, und nicht in deren Bewirtschaftung. Sie versprach, Menschen aus den Fesseln ihres Standes zu lösen; ihre Hautfarbe, ihr Geschlecht oder die Tatsache, dass es sich um Europäer handelte, sollte in der neuen Gesellschaft gerade keine entscheidende Rolle mehr spielen.

Gesellschaftsmitglied, das war der klassischen Linken Identität genug. Damit war sie dem bürgerlichen Begriff von Gesellschaft deutlich näher als die heute Identitätslinke, die sich mittlerweile sozial blind stellt, und dafür von kaum noch etwas anderem redet als von Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, Religion. Für sie gibt es PoC, People of Color, old white men, postcolonial migrants, Träger vieler Geschlechtsidentitäten und viele weitere Subkollektive. Nur eben keine Bürger.
Eine Gesellschaft nach diesem Muster kristallisiert, um einmal Karl Marx etwas abgeändert zu bemühen, wieder zu etwas Stehendem und Ständischem.

Wer also das Prinzip des Bürgers und übrigens auch die relativ neuzeitliche Erfindung des Nationalstaates gegen die Identitätspolitiker verteidigt, der ist ein Liberaler. Denn individuelle Rechte finden entweder durch die Figur des Bürgers ihren Sinn, oder eben gar nicht. Und er ist Konservativer, denn er verteidigt etwas, das Gefahr läuft, in den westlichen Ländern fortgeschwemmt zu werden.

In Deutschland ist oft von „selbsternannt“ die Rede, von selbsternannten Konservativen beispielsweise. Ich habe bei meinen Recherchen zu dem Begriff sogar die schöne Wendung „selbsternannter Dissident“ gefunden, eine Formulierung, die vermutlich nur einem deutschen Qualitätsjournalisten unterlaufen kann.
Der Bürger ist der Selbsternannte schlechthin. Er bekommt seinen Status nicht von einer Instanz verliehen. Er muss sein Bürgerrecht allerdings auch selbst beanspruchen und verteidigen, weil das niemand sonst für ihn erledigt.

Vor kurzem sagte eine Vertreterin der Identitätslinken in Paris dem Philosophen Alain Finkielkraut während einer Diskussionsveranstaltung: “Ihre Welt geht unter. Sie können in Panik geraten, wie Sie wollen, es ist vorbei!”
Das führt zu einer Frage, der ich nicht ausweichen kann: Was ist, wenn die Figur des Bürgers tatsächlich historisch verkümmert? Wenn einer Mehrheit in dieser Gesellschaft das Prinzip des Bürgerrechts nicht mehr einleuchtet, und sie es durch eine ständische Gesellschaft von Identitätskollektiven ersetzt? Gibt es eine Notwendigkeit dafür, dass eine Gesellschaft bürgerlich verfasst ist?

Nein, sie gibt es nicht. Die Gesellschaften des Westens waren schließlich nicht immer in ihrer Geschichte bürgerlich verfasst, die Länder des Islam waren es bekanntlich nie. Gesellschaften können sich sehr schnell und unerwartet ändern. Diese Erfahrung hatten übrigens auch die Großeltern Gerhard Löwenthals gemacht. Wie lautet also deine Letztbegründung für deine Idee der Bürgergesellschaft? Warum bist du überhaupt Bürger? Dafür gibt es keine bessere letzte Begründung als: Weil ich es will.
Tatsächlich, wenn es irgendwann nicht mehr genügend selbsternannte Verteidiger der bürgerlichen Gesellschaft geben sollte, dann wird sie verschwinden.

Ich bin auf diese Weise liberal und konservativ, weil ich es so will, nicht, weil ich es sein muss.
So lange ich die Möglichkeit dazu habe, werde ich anderen durch meine Texte Angebote machen. Ein Liberaler braucht keine Gefolgschaft. Aber er freut sich natürlich über Zustimmung. Und er freut sich auch über einen Preis.

Ich danke Ihnen.”

 

 

Redaktion:

Kommentare anzeigen (22)

  • Lieber Herr Wendt, es freut mich außerordentlich, Ihnen als "sogenannter " Bürger dieses Landes sehr sehr herzlich zu Ihrem Preis gratulieren zu dürfen. Zu Löwenthals Zeiten existierten noch Journalisten, Bürger, Wähler, Deutsche, gar das "Volk", das deutsche. Heute nahezu unsagbar, hinter " die Menschen" , " die Be- völkerung" und "die Gesellschaft" versteckt. Als letztes im kulturmarxistischen Ringelrein. Wenn aber die Daminnen und Herrinnen rotgrüner Couleur uns unsere Zukunft absprechen, befinden sie sich auf dem sprichwörtlichen Holzweg. Sicher läßt sich Geschichte nicht umkehren, der Lauf der Zukunft hingegen sehr wohl. Daran arbeiten derzeit Millionen von Staatsbürger. Größen wie Sie und viele Ihrer konservativen und liberalen Kollegen. Aber auch "einfache" Diplomingenieure wie ich, tüchtige Meister und Facharbeiter. Jeder an seinem Platz. Wie früher, zu Zeiten der DDR, wächst der Widerstand. Auf dem Feld, an der Maschine, am PC und im Bundestag. Wer kriecht, wird zu allem Unglück auch noch getreten. In diesem Sinne, weiter so.

  • Herzlichen Glückwunsch, verehrter Herr Wendt,
    diesen Preis sollten Sie einfach mal besinnlich die Kehle hinunterrieseln lassen.

    Ihre Textangebote sind mehr als eine Angebot, sie sind ein unverzichtbares und profundes Nachschlagewerk für die vielen Fehlstellen unserer gesellschaftlichen Verwerfungen geworden.
    Dafür gebührt Ihnen außerordentlicher Dank und aufrichtige Würdigung.
    Ich danke zugleich der Jungen Freiheit, daß sie diesen Preis verliehen hat.

  • Herzlichen Glückwunsch Herr Wendt zu diesem Preis von einer Bürgerin, die dieses auch weiterhin sein will!

  • Liberal-konservativer Bürger sein zu können, darf, wenn man sich in der Welt umschaut, als glücklicher Umstand bezeichnet werden. Leider, denn dieser Bewusstseinszustand wird nicht überall akzeptiert. Freuen wir uns gemeinsam in einem Land zu leben, das diese Freiheiten garantiert und Menschen wie Sie, Herr Alexander Wendt, in der Öffentlichkeit mit einem Preis für diese Haltung auszeichnet. Herzlichen Glückwunsch hierzu.

    • Einspruch, die Akzeptanz des Konservativen ist grade am Verschwinden, so jedenfalls meine Wahrnehmung im Alltag, und diesen Preis verleiht mitnichten "ein Land" sondern: die Förderstiftung Konservative Bildung und Forschung.

      • Liberal-konservative Haltung „verschwindet“ nicht, sondern mag gegenwärtig etwas an Bedeutung verlieren. Tempora mutantur. Zum „Land“ Deutschland gehört auch die Förderstiftung Konservative Bildung und Forschung. Selbstverständlich „handelt“ ein Land nicht. Unzweifelhaft ist aber in diesem Land - nicht in jedem Land - eine solche Preisverleihung völlig problemlos möglich und das sollte immer positiv gesehen werden. Mit Missmut kommt man nicht weiter.

  • Herzlichen Glückwunsch Herr Wendt,

    auch ich als ein Bürger dieses Landes habe mich sehr gefreut und bedanke mich bei den Veranstaltern, dass ich dabei sein durfte.
    In der ganzen Diskussion, wer nun denn ein Bürger ist und wer nicht, befremdet mich das Geschrei der derer, die jahrelang sich als Antibürger, als Bürgerschreck verstanden und stolz gerufen haben „Bombardiert das bürgerliche Hauptquartier“, wobei auch oft die gemäßigten in den eigenen Reihen meinten.
    Zum Beispiel wollten die Gründer der Taz (1978) eine „antibürgerliche Zeitung“ schaffen, ein Kampfblatt gegen die bürgerliche Presse, womit sie alle namhafte Zeitungen meinten. In der aktuellen Diskussion wollen sie sich nun als ein Hüter von Bürgerlichkeit darstellen. Leute, die jedes Kommuniqué der verschiedenen RAF Kommandos abdruckten in denen politischer Mord angekündigt und gerechtfertigt wurde. Eine unsagbare Anmaßung.

  • Nicht nur Ihre Artikel, auch diese Rede ist einfach beeinruckend, prägnant und durchdacht. Ich bin Bürger, weil ich das will - was für ein Satz!

  • Sehr verehrter Herr Wendt, Ihre Bepreisung ist die einzige Bepreisung, die mich aus vollem Herzen freut. Auf dass Ihre beiden Schollen, Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Wille unzerstörbar bleiben! Meine allerherzlichsten Glückwünsche, Ihre selbsternannte Bürger- und Leserin Plutonia

  • Lieber Herr Wendt, ich möchte Ihnen meinen tief empfundenen Respekt aussprechen und zum Erhalt des Löwenthal-Preises herzlich gratulieren! Möge Ihr Beispiel einer vom Geist getragenen "Selbsternennung" zum (Staats-) Bürger Schule machen! Überdies möchte ich gerne einen kleinen Beitrag zur Bürgerkunde beisteuern, der sich auf ein Wort von Jean Paul Sartre bezieht. Dieser behauptet, der Mensch sei "zur Freiheit verurteilt". Wahr daran ist - und das sollte man nicht als eine Verurteilung bezeichnen! -, daß die menschliche Existenz die Dimension der Freiheit begründet und konstitutiv einschließt. Man kann sie meiden, man kann ihr zu entfliehen trachten, aber man kann sie eben nicht "abschaffen". In seiner Schlußfolgerung nun irrt der Philosoph. Er sah nämlich - und das erklärt den Begriff der Verurteilung - den Menschen auf einen ununterbrochenen Prozeß der Selbsterschaffung verpflichtet. Dies bedeutet letztlich, daß nichts von dem, was (vor-) gegeben ist, Gültigkeit beanspruchen kann. Solchermaßen abgeschnitten von (den je besonderen Umständen) seiner Herkunft und der "Schöpfung" überhaupt, existiert der Mensch (laut Sarte) nur "in" seinen Bemühungen, die Utopie zu realisieren. Und wie wir heute sehen (müssen), darf ihn nicht einmal die Realität an dieser Arbeit hindern.

  • Herzlichen Glückwunsch, verehrter Herr Wendt, zu dem wohlverdienten Preis!

    Ihre Bescheidenheit scheint erstaunlicherweise mit Ihrer journalistischen Brillanz mithalten zu können ... Jedenfalls sind Ihre sorgfältig recherchierten und höchst ergötzlich verfaßten Texte keineswegs nur "ein Angebot" (man hört mit: "unter vielen") , sondern sowohl geistige Aufbaunahrung als auch Antidepressivum für die immer offener politisch Verfolgten in diesem Lande, die von den Herrschenden, ihren Helfershelfern und Mitläufern "selbsternannte" Bürger und Dissidenten (und Schlimmeres) genannt werden.