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Enthüllt: Merkel liebt gepfefferte Argumente

Den Zustand der Meinungsfreiheit sieht die Kanzlerin in bester Ordnung. Das bedeutet nichts Gutes für das Debattenklima in Deutschland

Möglicherweise fragt sich der eine oder andere im Land, was eigentlich Angela Dorothea Merkel vom politischen Klima in einem Land hält, in dem sie zwischen ihren Reisen von einem Gipfel zum nächsten historischen Staatsbesuch ab und zu vorbeischaut, nämlich Deutschland.

Es gibt jedenfalls in Europa nicht viele Länder, in denen ein Professor, der vom Mitarbeiter eines führenden Regierungspolitikers als legitimes Ziel markiert wurde, nur noch unter Polizeischutz seine Ökonomievorlesungen halten kann, in dem es den Leiter einer Kulturinstitution den Posten kostet, wenn er privat mit dem Chef der größten Oppositionspartei zu Mittag isst, und in dem ein Gesetz zur Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit auf Internetplattformen gilt, das inzwischen autoritären Staaten von Venezuela bis Pakistan als Blaupause dient.

Selten äußert sich die Kanzlerin überhaupt zum deutschen Hier und Jetzt, zur jüngeren Vergangenheit erst Recht nicht. Ihren Parteimitgliedern klingt noch die Mahnung im Ohr, keine Zeit mit Gedanken zu verplempern, was seit 2015 falsch gelaufen sein könnte. Deshalb merkten Bürger auf, die mit ihr die Zeitgenossenschaft teilen, als sie kürzlich Spiegel Online eines ihrer seltenen Interviews gewährte und dort auch noch ihre Meinung zur Meinungsfreiheitsdebatte mitteilte.

„Aber die Debatte läuft ja so“, stellte Merkel fest, „dass ein sogenannter Mainstream definiert wird, der angeblich der Meinungsfreiheit Grenzen setzt. Doch das stimmt einfach nicht. Man muss damit rechnen, Gegenwind und gepfefferte Gegenargumente zu bekommen. Meinungsfreiheit schließt Widerspruchsfreiheit ein. Ich ermuntere jeden, seine oder ihre Meinung zu sagen, Nachfragen muss man dann aber auch aushalten. Und gegebenenfalls sogar einen sogenannten Shitstorm.“

Im gleichen Interview meint Merkel, natürlich solle der kürzlich an der Universität Hamburg niedergeschriene Bernd Lucke seine Vorlesungen halten: „Das muss der Staat notfalls durchsetzen“.
Nun muss jemand zumal als führende Repräsentant des Staates schon „das Gemüt eines Dreschflegels“ (Eckard Henscheid) besitzen, wenn er nicht merken will, dass die Meinungsfreiheit von Bernd Lucke und anderen ähnlich niedergebrüllten Leuten praktisch schon ausgesetzt ist, wenn sie nur noch unter Polizeischutz öffentlich reden können.

Die dummerstellerische Ansicht, Meinungsfreiheit bestehe in der formalen Möglichkeit, alles zu sagen, bedeutet im Umkehrschluss, um die Meinungsfreiheit stünde es erst für denjenigen kritisch, der stumm oder tot ist. Alles sagen konnte im Prinzip auch jeder DDR-Bürger und jeder Insasse einer Diktatur, gemäß dem Bonmot von Idi Amin: „There is freedom of spreech, but I cannot guarantee freedom after speech.“ Es kommt also darauf an, ob Meinungen in einer Gesellschaft zu Bedingungen ausgetauscht werden können, die für Anhänger regierungsnaher Doktrine prinzipiell nicht anders sind als für diejenigen, die sie nicht teilen.
In der DDR stand das Recht auf freie Meinungsäußerung übrigens in der Verfassung.

Mehr Beachtung verdient allerdings der zweite Teil der merkelschen Argumentationsführung im Spiegel. „Meinungsfreiheit schließt Widerspruchsfreiheit ein“, für diesen Merkelsatz gilt wie für viele ihre Hervorbringungen, dass schon die einmalige Lektüre quälend ist, man aber zweimal lesen muss, um überhaupt zu deuten, was sie mutmaßlich meint. „Widerspruchsfreiheit“ bedeutet im normalen Sprachgebrauch Freiheit von Widersprüchen beispielsweise in einer Argumentation oder These. Ein anderes Wort dafür lautet Konsistenz. So will sie es aber nicht verstanden wissen, dafür sprechen ihre Sätze vorher, wer etwas meine, der müsse eben auch „damit rechnen, Gegenwind und gepfefferte Gegenargumente zu bekommen“, er müsse „Nachfragen auch aushalten“. Tastsächlich, wer eine Meinung vorträgt, muss mit Nachfragen rechnen, falls er nicht gerade Angela Merkel heißt und mit einem Spiegel-Redakteursduo plaudert. Das hätte nämlich per Nachfrage erforschen können, welcher Teilnehmer an der öffentlichen Debatte denn nach Merkels Ansicht nicht mit Gegenargumenten rechnet.

Das so genannte Narrativ*, wer auf die eingeschränkte Meinungsfreiheit hinweise, vertrüge in Wirklichkeit nur keine Gegenmeinung, ist in der Meinungsfreiheitsdebatte die Mutti aller Strohmannargumente. Kein Bernd Lucke, kein Jörg Baberowski, kein Uwe Tellkamp, kein Norbert Bolz, keine Monika Maron und auch sonst weit und breit kein ernstzunehmender Diskutant unter den üblichen Verdächtigten hat je verlangt, von Gegenargumenten verschont zu werden. Im Gegenteil, öfters bitten sie sogar ausdrücklich um gescheite Widerworte, und nicht selten vergeblich. Was den Autor dieses Textes betrifft: Auch ich erwarte die Argumente der anderen dringend, die gepfefferten schätze ich besonders, denn ich möchte nicht gern in die Lage von Talleyrand kommen, von dem es heißt, er wäre bei der Lektüre eines gegen ihn gerichteten Pasquills eingeschlafen.

Die Behauptung, ausgerechnet diejenigen, die von Meinungskorridor sprechen, verwechselten Meinungsfreiheit mit ihrem offenbar heimlichen, da ja nirgends öffentlich geäußerten Wunsch, keine Widerworte ertragen zu müssen, vertritt Merkel nicht exklusiv. Es handelt sich um eine Copy-and-Paste-Diskursstanze mit mittlerweile hoher Seriennummer. So simulierte schon vor einiger Zeit Kai Unzicker, Leiter des Projekts „Vielfalt leben- Gesellschaft gestalten“ der Bertelsmann-Stiftung in seinem Blogtext die Geste des Türeinrennens auf freiem Feld: „Aber vielleicht liegt bei denen, die sich sorgen, ihre Meinung nicht mehr sagen zu dürfen, auch nur ein Missverständnis vor. Meinungsfreiheit heißt lediglich, frei zu sein die eigene Meinung sagen zu dürfen. Sie bedeutet nicht, dass diese ohne Kritik und ohne Widerspruch stehen bleiben muss.

In ihrer Broschüre „Demokratie in Gefahr“ geben die Autoren der Amadeu-Antonio-Stiftung unter dem Stichwort „Klare Kante – Klare Erklärung“ den Rat für die Auseinandersetzung mit Rechtspopulisten: „Unterschied zwischen Meinungsfreiheit und Widerspruchsfreiheit deutlich machen“. Immerhin verwenden sie den Begriff „Widerspruchsfreiheit“ anders als Merkel halbwegs korrekt als „frei von Widerspruch“.

Der Direktor der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung Roland Löffler belehrt, Meinungsfreiheit „bedeutet auch keinen Anspruch auf Zustimmung oder gar den Schutz vor Kritik“.
Auch Claus Kleber vom ZDF ließ in einem Interview mit der Süddeutschen wissen: “Man darf nicht behaupten, dass die Meinungsfreiheit eingeschränkt sei, nur weil man keinen Widerspruch erträgt.“
Wer man ist, sagte er nicht. Die Art und Weise, wie von Merkel bis Kleber immer die exakt gleiche Phrase ausgeworfen wird, lässt den Verdacht aufkommen, dass ein etwas anspruchsloser Bot hinter allen steckt.

Wie gesagt: Merkel, Unzicker, die Kahane-Mitarbeiter, Löffler und Kleber scheinen unisono ganz bestimmte Leute im Blick zu haben, die angeblich fordern, vor Kritik geschützt zu werden und Zustimmung garantiert zu bekommen, nennen allerdings keinen einzigen, auf den das tatsächlich zuträfe. Was nicht überraschend kommt, denn die Strohpuppen, auf die sie diskussionssimulierend einschlagen, tragen nun mal per Definition keine Namen.

Bleiben wir trotzdem einen Moment bei dem Begriff ‚Widerspruch’, beziehungsweise dabei, was alles nicht unter Widerspruch fällt. Zum Beispiel, einen Professor niederzuschreien. Durch Blockade eine Lesung zu verhindern. Veranstaltungsgäste und Diskussionspartner wieder auszuladen. Absichtsvoll Zitate zu fälschen und ihr Gegenteil zu verdrehen, wie es linke Stimmungsmacher seit Jahren bei dem Historiker Jörg Baberowski tun, und wie es ein Kartell von Manipulateuren lange gegen die Publizistin Necla Kelek verfolgte, bis ein Gericht dem Treiben ein Ende setzte.
Es ist auch keine Gegenmeinung, wenn Löschtrupps im Facebook-Auftrag und mit Wohlwollen von Heiko Maas und Angela Merkel immer wieder Postings löschen, die in keiner Weise gegen irgendwelche Gesetze verstoßen, und zwar in rechtswidriger Weise löschen, wie es Gerichte dem Konzern zum Glück immer wieder bescheinigen. Es ist kein Widersprechen und Diskutieren, Diskussionen niederzuschreien, Bücher zu stehlen und zu zerreißen, wie es linke Trupps auf der Frankfurter Buchmesse gegen so genannte rechte Verlage praktizierten. Und es ist auch kein Widerspruch – höchstens gegen das eigene Credo – wenn die Leitung der Frankfurter Buchmesse zwar von Vielfalt und Debatte spricht, dann aber in der Buchmesse 2019 drei rechte Verlage in eine Sackgasse weit abseits des Gedränges platziert, damit sie möglichst von wenigen aufgesucht werden.

Und wenn der Chef der Hessischen Filmförderung auf Druck linker Filmsubventionsempfänger wegen eines Mittagessens mit dem AfD-Vorsitzenden entlassen wird, dann behauptet hoffentlich noch nicht einmal der strammste Vertreter des spätmerkelistischen Byzantismus, hier ginge es um Diskurs, und so viel Widerspruch müsse der Betroffene in einer Demokratie eben aushalten.

Interessanterweise hätten die beiden Spiegel-Mitarbeiter, die brav die Antworten Merkels aufzeichneten, in ihrem eigenen Blatt gerade erst nachlesen können, wie linke Jakobinchen an der Hamburger Uni nach einem offenbar für sie frustrierenden Gespräch mit Bernd Lucke erklärten, sie seien zu keinen weiteren Gesprächen mit dem Professor bereit, der sei nämlich talkshowerfahren und habe ihnen „rhetorische Fallen gestellt“. Zu deutsch: Er hatte Argumente dabei. Vielleicht hatten die Studenten bemerkt, dass es die eine Sache ist, fünfzigmal hintereinander „es gibt kein Recht auf Nazipropaganda“ zu skandieren, und die andere, auch nur drei Sätze zu sagen, die sich argumentativ auf den Diskussionsgegner beziehen.

An der Berliner Humboldtuniversität lehnten ultralinke Studentenvertreter, die dort gegen Baberowski polemisieren, vor kurzem ein von der Universitätsleitung vorgeschlagenes Vermittlungsgespräch ab.
Als die Leiterin des Forschungsinstituts Globaler Islam der Universität Frankfurt Susanne Schröter kürzlich eine kontrovers besetzte Konferenz zur politischen Bedeutung des Kopftuchs organisierte, standen linksradikale Studenten zusammen mit muslimischen Aktivisten draußen, skandierten Parolen und weigerten sich auch nach der ausdrücklichen Einladung Alice Schwarzers, in die Veranstaltung zu kommen und mitzudiskutieren. Ihr Ziel bestand darin, die Veranstaltung zu verhindern, ihre Parole lautete „Schröter raus“.

Also: Wo geht es eigentlich zum Streit, zu dem der Bundespräsident ständig ermuntert, zu den gepfefferten Argumenten, die Merkel für eine gute Sache hält? Wo finden die öffentlichen Debatten statt, in denen Diskussionspartner einander nicht schonen, und jeder möglicherweise etwas auszuhalten hat? Wo gibt es Debatten, wie sie die Kanzlerin, der Bertelsmann-Wissenschaftler Unzicker und der politische Bildungsarbeiter Löffler als idealtypisch beschreiben?

In Universitäten immer weniger; dort setzt sich gerade die aus den USA stammende Idee der ‚safe spaces’ durch, also Räumen, in denen mit linker Identitätspolitik aufgeladene Studenten sich wechselseitig in ihrer Sicht auf alte weiße Männer, Postkolonialismus, Kapitalismus und Gender bestätigen, während jeder draußen bleiben muss, von dem auch nur die abstrakte Gefahr eines Widerworts droht. Von universitären Linksaktivisten geht auch die aus den USA stammende Bewegung des „de-platforming“ aus, die sich erklärtermaßen darauf richtet, Diskussionen zu verhindern, in denen, wie es dann heißt, den falschen Personen „eine Plattform geboten wird“.

Findet der funkensprühende Streit auf dem Evangelischen Kirchentag statt? Der Präsident des letzten Kirchentages, der langjährige Redakteur der Süddeutschen Hans Leyendecker hatte schon bei Veranstaltungsbeginn verkündete, er habe Politiker fast aller Parteien eingeladen, aber nicht der AfD. Bei der Kitsch-und-Krempel-Messe der EKD gab es auch sonst kaum ein Podium, auf dem auch nur als Minderheitsposition Verfechter von konservativen, libertären oder nicht klimaarlarmistischen Haltungen saßen.

In den Foren der staatlich geförderten Kulturinstitutionen kommen genau so wenige gepfefferte oder ungewürzte Streitbeiträge vor, nämlich gar keine. Im Oktober 2019 fanden sich im „Herbstsalon“ des Gorki-Theaters die üblichen Figuren zu der „diskursiven Intervention“ namens „De-heimatize Belonging“ zusammen, um, gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung, einander in einer Art Potlatsch über die „Verbindungen von Kolonialismus, Rassismus, Sexismus, Kapitalismus und ‚Heimat’“ zu unterrichten, wobei Heimat natürlich nur streng in Tüttelchen gesetzt vorkam, es handelt sich schließlich um einen toxischen, ausgrenzenden, nationalistischen Begriff. Natürlich gab es in der „diskursiven Intervention“ keine diskursive Intervention und keinen Teilnehmer auf der Bühne, der einen irgendwie positiven Begriff von Heimat gehabt hätte. Praktisch alle Veranstaltungen der offiziösen Kulturszene funktionieren nach dem Muster, dass Teilnehmer mit nahezu identischen Ansichten fast identische Statements in ein Auditorium sprechen, das praktisch komplett ihrer Meinung ist. Um den bayerischen Philosophen Karl Valentin zu bemühen: „Wo alle dasselbe denken, wird nicht viel gedacht.“

Was auch für das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland gilt. Talkshows sind schon deshalb von vorn herein nicht auf Streit angelegt mit ihren Talkmastern und -Maitressen, die den Einzelnen die Wortmeldungen zuteilen und streng darauf achten, dass, wenn einmal jemand rechts der Demarkationslinie eingeladen ist, sich vier oder fünf auf der anderen befinden.
Und selbst diese herabgedimmte Form finden viele Diskurssittenwächter schädlich. Im vergangenen Jahr meldet sich ein öffentlich bis dahin weitgehend unbekannter Kulturrat mit der Forderungen, Talkshows eine einjährige Sendepause zu verordnen, in denen sie ihr Konzept zu „überarbeiten“ hätten. Begründung: Es würde dort zu viel über Migration und Islam debattiert.

Um auf Merkel zurückzukommen: Wenn sie gepfefferte Argumente und Widerspruch für selbstverständlich hält, dann stellt sich die Frage, warum sie sich grundsätzlich zu Anne Will ins Fernsehen begibt, wenn sie wieder einmal meint, die politische Luft für sie als Kanzlerin werde für sie dünn, warum sie also nur dorthin geht, wo ihr zuverlässig ein mediales Schaumbad eingelassen wird. Und gibt es eigentlich aus den letzten Jahren irgendein Print-Interview mit Merkel, das Steffen Seibert mit ihr nicht so ähnlich geführt hätte? Wie man in Berlin hört, ist genau das Bedingung für eine Journalistenaudienz im Kanzleramt.
Bevor sich Merkel 2017 auf ein Fernsehduell mit dem ohnehin schwachen Herausforderer Martin Schulz eingelassen hatte, schickte sie ihre Leute, um die Modalitäten so festzuzurren, dass der arme SPD-Mann praktisch keine Chance zur direkten Attacke bekam. Sollten sich die Sender nicht darauf einlassen, so ihre Drohung, dann komme sie eben nicht. Auf den Wink der Merkeltruppe lud das ZDF vor einer TV-Fragerunde mit Zuschauern ein Opfer des Terroranschlags vom Breitscheidplatz wieder aus. In Ländern mit einer intakten demokratischen Öffentlichkeit hätte das zum Sturz des Intendanten und zur Abwahl der Kanzlerin führen müssen. In Deutschland passierte bekanntlich beides nicht.

Bei der Gelegenheit lohnt es sich, noch einmal die ZDF-Sendung „Klartext, Frau Merkel“ von 2017 anzusehen. Kurz vor der Bundestagswahl 2017 konfrontiert sie dort eine Frau im Publikum mit einer Statistik des bayerischen Innenministeriums, nach der die Zahl der schweren Sexualstraftaten innerhalb eines Jahres um 48 Prozent gestiegen war, und diese Steigerung zu 91 Prozent auf die Kriminalität von Zuwanderern zurückzuführen war. Die Zuschauerin wollte von der Kanzlerin wissen, ob sie die massenhafte Einwanderung von jungen Männern mit einem archaischen Frauenbild nicht für problematisch halte.
Es handelt sich noch nicht einmal um ein leicht gepfeffertes Argument, sondern nur um Zahlen, die auch Merkel schlecht bestreiten konnte. Trotzdem – und es ist gut, dass sich das Video noch in den Archiven findet – schaffte es Merkel in etwa anderthalb Minuten, an der Frage vorbeizureden, der Fragerin zu unterstellen, sie hätte einen „Generalverdacht“ gegen alle Einwanderer geäußert und etwas „insinuiert“, um die Frau dann indigniert herunterzuputzen, kurzum, sie erklärte nicht die Kriminalitätsentwicklung zum Problem, sondern die Fragestellerin. Legendär wurde dabei Merkels Satz: „Strafdelikte sind bei uns nicht erlaubt“, dazu behauptete sie, wer als Migrant straffällig würde, müsse Deutschland verlassen, „das haben wir gesetzlich geregelt“. Was normativ stimmt, deskriptiv allerdings nicht, wie sie selbst weiß.

Es bleibt nicht ohne Folgen, wenn eine Politikerin, die ihre Politik ungern erklärt und noch weniger zur offenen Diskussion neigt, im 14. Jahr regiert. Merkel hat Deutschland bis in tiefe Schichten hinein geprägt, viel tiefer als Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder. Zwischen ihr und dem kulturell tonangebenden Milieu gibt es eine untergründige Allianz. Beide wissen
ziemlich gut: In öffentlichen Debatten, die zu halbwegs gleichen Bedingungen stattfänden, hätten sie wenig zu gewinnen. Ihre Beschreibung ungenannter Kräfte, die mit Widerspruch schlecht umgehen können und autoritär auf Zustimmung pochen, läuft auf ein lupenreines Selbstporträt hinaus.

Trotzdem, Merkels Wort von den gepfefferten Argumenten, von den Zumutungen, ohne die keine Debatte stattfinden kann – das muss als unbewusste Verheißung für später gelesen werden. Mit ihrer Regierung wird hoffentlich auch die Ära ablaufen, in der Streit als gesellschaftsgefährdender Vorgang gilt.
Falls sie widersprechen möchte, kann sie sich gern zur Sache melden.

 


* Im amerikanischen Jugendslang wird „narrative“ mittlerweile als Synonym für ‚Betrug’ gebraucht.

 

 

 

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Kommentare anzeigen (29)

  • Unter Widerspruch fällt auch nicht von Linksfaschisten "nidergelatzt" zu werden oder auf Grund der falschen Meinung das Eigenheim mit Farbbeuteln verziert zu bekommen. Ganz zu schweigen von dem Widerspruch, dem Gastwirte ausgesetzt sind, wenn sie ihre Veranstaltungsräume an die Wortführer der falschen Meinung vermieten.
    Nein, ein gepfeffertes Gegenargument fürchten diejenigen nicht. Wohl aber den Verlust des Arbeitsplatzes, der wirtschaftlichen Existenz oder ganz allgemein der körperlichen Unversehrtheit.
    Zwei von drei Deutschen haben "Bedenken" sich zu bestimmten politischen Temen offen zu äußern.
    Das spricht doch Bände. Willkommen im "Land in dem wir gut und gerne leben", ganz besonders die,
    "die schon länger hier leben" .

  • Ein hervorragender Text. "Mediales Schaumbad" ist für mich das Wort des Jahres. Und das beste Deutschland aller Zeiten ist ganz klar die BRDDR. Gerne natürlich Widerspruch, er wird aufmerksam zur Kenntnis genommen.

  • Man muss sich schon fragen, in was für einem freien Staat leben wir. Vor gerade mal 30 Jahren wurde hervorgehoben welch ein Segen und Glück es ist, in einem Land, wie der Bundesrepublik Deutschland, leben zu dürfen, während unseren Landsleuten in der sogenannten DDR die freie Meinungsäußerung versagt werde.
    Was geht in unserem Land eigentlich vor, dass diejenigen, die ständig die Demokratie schützen wollen, zumindest behaupten sie das, sich nach eigenem Gusto festlegen was Demokratie ist, und dass diese Demokratie nur einem bestimmten exklusiven Teil der Bevölkerung zusteht. Wer nicht dem sognannten "Mainstream" folgt wird ausgegrenzt. Gleichzeitig sprechen die Ausgrenzer davon, dass es keine Ausgrenzung geben darf! Wer nicht dem Mainstream folgt läuft Gefahr als Nazi beschimpft zu werden. Ich bin besonders erstaunt, dass auch Zeitungen, die als seriös gelten, überwiegend diesen Journalismus mittragen.
    Darf man eigentlich noch einen Deutschen Schäferhund haben und VW fahren, ohne in Verdacht zu kommen man sei ein Nazi? Es verwundert, dass der Autobauer VW noch nicht gezwungen wurde seine Firmierung zu ändern. Laut dem Spitzenpolitiker der Grünen, gibt es ja kein Volk, also auch keinen Volkswagen....

  • Ein Deutschlandbild -- zum Gruseln. Bin froh, nicht dort leben zu müssen. In A, wo ich heimisch bin, ist die Lage auch nicht gerade rosig, doch immer noch besser als in D. Daß ich jemals so denken würde, hätte ich nie geglaubt.
    Ein Hauptgrund ist, denke ich, daß D ein viel zu schön gefärbtes Bild von sich hat. Und damit lügt es zuerst sich selbst an, dann die anderen auch. Beides kann schlimm enden. Daran denkt es aber nicht. Schade.
    lg
    caruso

    • In Deutschland sind wir noch nicht am Ende , es wird noch schlimmer. Nur ist es hier so, dass ein "Glücklicher Sklave" eben keine Revolution anzettelt!

  • Wenn Merkel einfach als Person X bei einer Geburtstagspartie sprechen würde, würden alle schreiend weglaufen, ob des verqueren Unsinns, den die Frau von sich gibt. Da sie leider Bundeskanzlerin ist, stehen alle mit offenem Mund da, wie paralysiert. Wenn es nicht so dramatische Folgen für Deutschland hätte,
    wäre es einfach nur Komödie für die Irrenanstalt.

  • Was mir bei der Merkelberichterstattung auffällt, ist daß ihre Aussagen wie Reliquien behandelt werden, wie religiöse Zeichen, die per se wichtig sind und wo es dann nur darum geht, die Wichtigkeit herauszuarbeiten via Exegese. Sie selber inszeniert sich ja auch so mit ihrer Raute und dieser ganzen pharaonenhaften Starrheit. Die Medien sind doch echt nicht mehr ganz dicht..

    Früher hätte ein Werner Höfer Merkels "Aussagen" kurz unter Wischiwaschi verbucht.

  • Wenn ich an Merkel denke und an ihr Verständnis von Debattenkultur, dann wünsche ich mir das Mittelalter zurück. Da gab es nämlich an den Universitäten eine ganz bewundernswerte Verfahrensweise. In seinem Buch „Der Skandal der Skandale / Die geheime Geschichte des Christentums“ schreibt Manfred Lütz auf Seite 94: „Extremste Positionen wurden mit argumentativer Brillanz vertreten und mit ebenso argumentativer Brillanz widerlegt. Die Disputationskultur war vorbildlich. Bevor man eine Position kritisieren durfte, musste man sie erst auf eine so überzeugende Weise selbst darstellen, dass der andere sich in dieser Darstellung auch wiederfand. Und dann erst kam der intellektuelle Gegenangriff.“
    So findet man die Wahrheit heraus, die nicht immer, aber oft irgendwo in der Mitte liegt, und um die Wahrheit allein sollte es gehen. Jeder muß bereit sein, die eigenen Positionen zu überprüfen, zu verbessern, unter Umständen sogar aufzugeben, wenn die stichhaltigeren Argumente dagegen sprechen. Wer andersdenkende Leute und Kritiker nicht anhören will, wer sie behandelt wie Angela Merkel, jene Frau und Fragestellerin in der Sendung „Klartext, Frau Merkel“, der läßt diese so eminent wichtige Bereitschaft vermissen. Er glaubt sich nicht nur im Besitz der alleinigen und absoluten Wahrheit, verweigert nicht nur hochmütig und selbstgerecht die argumentative Auseinandersetzung, er scheint auch der Kraft seiner eigenen Argumente und seiner eigenen Rhetorik zu misstrauen. Dieses Misstrauen beseelt wohl auch Frau Merkel, und das mit einem gewissen Recht; denn klares Denken, stringente Argumentation, optimale Beherrschung und rhetorisch herausragende Verwendung der deutschen Sprache gehören nicht gerade zu den stärksten Seiten unserer Kanzlerin. Ihre Fähigkeiten liegen woanders.

  • Ich denke man sollte von einer "Meisterin der verschwurbelten Sätze" nicht mehr erwarten.
    Inhaltslosigkeit ist nach meiner Beobachtung Ihr Markenzeichen.

  • Ihre Aufzählung von Zuständen und Ereignissen, die ich noch vor fünf Jahren für undenkbar gehalten hätte, ist schon für sich genommen nur schwer auszuhalten. Hinzu aber kommt noch das vielleicht erschreckendste Phänomen unserer zunehmenden Freiheit von Meinungsfreiheit: die vom linksgrünen Establishment mindestens geduldeten, wo nicht systematisch geförderten Terrorzellen der "Antifas". Diese Zellen und ihr Überbau loten die Grenzen der tolerierten medialen und körperlichen Gewalt gegen Anderdenkende jeden Tag ein Stück weiter aus - ohne bislang an ebendiese Grenzen zu stoßen. Morddrohungen gegen "Rechte" (in vollkommen beliebiger Definition) sind bereits an der Tagesordnung. Nicht mehr lange, so ist zu befürchten, und sie werden auch umgesetzt. Wenn wir diese Hilfstruppen der Antidemokraten weiter widerstandslos gewähren lassen, ist der point of no return für unser Land bald erreicht.