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Das Weltmoralhauptamt schenkt den Juden einen Kommentar

Ohne eine Tagesschau-Redakteurin wüssten wir nicht, dass Israel beinahe das Holocaust-Gedenken vermasselt hätte. Was würde eigentlich aus der Welt, wenn das deutsche Fernsehen irgendwann nicht mehr sendet? Nicht auszudenken

Es gibt Kommentare, die wie eine Erfindung klingen. Sicherlich, ein wohlmeinender deutscher Journalist ist per Definition ein Bescheidwissenschaftler mit der Lizenz, allen auf dem Erdenrund – die Angela Merkel und Robert Habeck einmal ausgenommen – Fehler, Irrtümer und Dummheiten vorzuhalten.

Insbesondere die Redakteure und Redakteurinnen aus dem ARD-Kommentarpool bilden eine Art Weltmoralhauptamt, für das thematische Grenzen nicht existieren. Aber der Tagesschau-Kommentar, in dem Sabine Müller vom ARD-Hauptstadtstudio die Israelis für deren egoistische und schlecht organisiert Holocaust-Gedenkfeier in Yad Vashem zur Rechenschaft zog, stellt doch etwas ganz Besonderes dar. Und zwar ein bisher nicht geschriebenes, aber jetzt eben doch existierendes und in der ARD-Mediathek abrufbares Ruhmesblatt in der Geschichte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

Die Gedenkfeier, so Müller, sei in ihrer Würde eigentlich nur durch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vor den Juden gerettet worden:

„An Bundespräsident Steinmeier lag es nicht: Der Gedenktag in Yad Vashem wurde von den egoistischen Auftritten Israels und Russlands überschattet.“

„Juden überschatten Holocaust-Gedenktag“ wäre eigentlich auch eine kongeniale Überschrift für Frau Müllers Text gewesen. Aber weiter in ihrer Anklageschrift:

„Unwürdig war dagegen, wie Israel und Russland diesen Gedenktag teilweise kaperten. Wie sie vor der offiziellen Veranstaltung sozusagen ihre eigene politische und erinnerungspolitische Privatparty feierten – mit […] dem demonstrativ überlangen bilateralen Gesprächen zwischen Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und Präsident Wladimir Putin. Wie sie die Einweihung eines Denkmals zur Erinnerung an die Belagerung Leningrads gnadenlos überzogen, wie sie 90-jährige, 100-jährige Holocaust-Überlebende eine Dreiviertelstunde lang in Yad Vashem warten ließen wie bestellt und nicht abgeholt – und dazu noch mehr als 40 Staats- und Regierungschefs.“

Israel kapert das Gedenken an die Shoa, es kapert überhaupt Yad Vashem, feiert dort eine Privatparty, auf der es zugeht wie in der Judenschul. Und dann kommt noch Russland mit seinem Mahnmal für die etwa eine Million Toten, die bei der Belagerung von Leningrad starben. Gut, die Blockade endete am 27. Januar 1944, genau ein Jahr vor der Befreiung von Auschwitz, es gibt also einen doppelten Gedenktag – aber Leningrad ist ja nun wirklich, wie Müller feststellt, eine Angelegenheit, die nur Russen betrifft und höchstens in deren erinnerungspolitischen Privatpartys ihren Platz hätte.

Bei dem „überlangen bilateralen Gespräch“ zwischen Netanjahu und Putin – und nur deutsche ARD-Mitarbeiter wissen, was angemessen und was überlang ist – bei dem Gespräch also ging es übrigens um die vorzeitige Freilassung der israelischen Yogalehrerein Naama Issachar, die als Transitreisende wegen eines Bagatellbesitzes von Haschisch in Russland zu mehr als sieben Jahren Haft verurteilt worden war.

Auf den Umstand, dass die Gedenkfeier 40 Minuten später begann als geplant, stützt Müller ihren Kommentar faktisch. Aber eigentlich geht es ihr um etwas Grundsätzliches, nämlich um die Feststellung, dass Israel als jüdischer Staat nicht einfach das Holocaust-Gedenken für sich in Anspruch nehmen kann. So etwas gilt nämlich als „nationales Eigeninteresse“. Und das geht im 21. Jahrhundert natürlich nicht. Ein bisschen Nachsicht – wegen des besonderen Tags wahrscheinlich wollte sie nicht so sein – übt Frau Müller dann doch:

„Aber es sind Zweifel angebracht, wie viel internationale Einheit wirklich da ist und wie sehr letztlich nicht doch nationale Eigeninteressen dominieren. Dass Putin und Netanyahu immerhin ihre Auftritte bei der Gedenkveranstaltung in Yad Vashem eklatfrei hinter sich brachten, ändert nichts an diesen Zweifeln.“

„ARD meldet: israelisches Holocaustgedenken endlich eklatfrei“ – auch das wäre eine angemessene Zeile für das ARD-Stück gewesen.

Da Sabine Müller sich mit praktisch allem kritisch beschäftigt, nur nicht mit der Rede Steinmeiers, hier noch eine Anmerkung: Wie der Historiker Michael Wolffsohn in der Welt schrieb, hätte der Bundespräsident bei der Gelegenheit darauf aufmerksam machen können, dass sich die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus heute nicht mehr auf die Einwohner mit deutschen Vorfahren beschränkt:

„Rund ein Viertel der Deutschen hat Migrationshintergrund. Viele sind Muslime. Die bisherige Gedenkkultur Deutschlands richtet sich nur an die Nachfahren der Deutschen, die das NS-Regime miterlebt, getragen und ertragen haben.

Tatsächlich, so Wolffsohn, habe es auch in der arabischen Welt Sympathie und Unterstützung für den Judenmord gegeben. Und es gibt sie bis heute; die öffentliche Verbrennung von Flaggen mit Davidstern in Berlin und die „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“-Rufe auf dem Kurfürstendamm kamen bekanntlich nicht von Deutschen, deren Vorfahren schon länger hier leben.

Stattdessen lieferte der Bundespräsident in Israel die vertrauten Satzschablonen zum Thema.
„Es sind zudem die immergleichen Worte, also deren Inflationierung“, so Wolffsohn. „Damit werden sie wertlos. Kein Wunder, dass kaum noch jemand zuhört.“

Aber darin, dass kaum noch jemand zuhört, besteht ja nicht zuletzt der Zweck von offiziellen deutschen Rhetorikunternehmen zu diesem Thema.
Steinmeier meinte in seiner Rede, in dem heutigen Antisemitismus lebten die „bösen Geister in neuem Gewand“ weiter. Es braucht noch nicht einmal eine übergroße Reflexionsfähigkeit, um zu sehen, dass neben dem leicht identifizierbaren Bösen eben auch das unheilbar Gute weiterlebt, vor allem das unerschütterlich gute kerndeutsche Gefühl der moralischen Superiorität gegenüber dem Rest der Welt. Und dass beides mehr miteinander zu tun hat, als es einer ARD-Hauptstadtstudiomitarbeiterin lieb sein kann, weshalb sie auch diesen Gedanken neben vielen anderen tunlichst meidet.

Was die Juden und die von ihnen beinahe vermasselte Judenmord-Erinnerung in Israel angeht: Im kommenden Jahr sollte der Gedenktag am besten gleich unter deutscher Leitung stattfinden, damit sich so etwas nie wiederholt. Von Organisation versteht Deutschland immerhin noch ein bisschen, wenn auch nicht mehr ganz so viel wie vor achtzig Jahren.

 

 

Alexander Wendt: Weitere Profile:

Kommentare anzeigen (18)

  • Ein Vorgang, für den es eigentlich keine Worte gibt, außer Worte des Abscheus. Danke, dass Sie Worte gefunden haben, die aufklärenden, die richtigen.

  • Aua! Da hat PUBLICO aber zielgenau ins empfindliche Schwarze getroffen.... hervorragend!

  • Danke, Herr Wendt, vielen Dank! Genau so ist es. Eine Frage nur: Sind Merkel, Steinmeier & Co. geisteskrank - schöne wahre Worte aus tiefster Überzeugung sagen und dann genau das Gegenteil tun, was das Gesagte beinhaltet, oder sind sie nur einfach charakterlos? Oder beides zugleich: krank im Geiste, genauso im Charakter?
    lg
    caruso

  • In den ARD-Nachrichten wurde auch peinlichst vermieden zu erwähnen, dass die Befreiung des Lagers Auschwitz durch die Russen erfolgte. Die gewohnte selektive Berichterstattung.

    • Nicht die Russen, sondern die Sowjets, genauer: durch die Kommunisten.

  • Dieser Kommentar der Frau Müller zeigt nur eines wieder ganz deutlich: den Deutschen - oder zumindest den Steinmeiers und Müllers - sind tote Juden wesentlich sympathischer als heute lebende Juden! Deswegen werden die heute lebenden Juden und der Staat in dem sie leben auch permanent durch irgendwelche UN-Resolutionen verurteilt! Deswegen werden Regime, die offen die Vernichtung der heute lebenden Juden und die Auslöschung ihres Staatsgebietes propagieren von deutschen Politikern quer durch den Bundestag (mit wenigen Ausnahmen!) hofiert und finanziell unterstützt! Deswegen hat man keinerlei Probleme damit, massenweis Menschen in unser Land zu lassen, die - durchaus im Einklang mit hier schon länger lebenden Antisemiten - den Judenhass wieder befördern!

  • Leider wird von unseren Politikern mal wieder der Anteil der in Deutschland sich aufhaltenden Muslime am Antisemitismus entweder verschwiegen oder runtergespielt. Damit sind wir wieder beim ewigen Thema: Was sich immer auch nur entfernt dazu eignet wird verwendet, um gegen die AfD zu hetzen. Leider kann man das auch beim Interview von T.online mit dem Antisemitismusbetauftragten der Jüdischen Gemeinde Berlin beobachten, der ebenfalls den Anteil der Muslime am Antisemitismus praktisch unerwähnt lässt, obwohl er als Beliner es doch wirklich besser wissen müsste (und es wohl auch tut), da gerade dort der Anteil am muslemischen Antisemitismus besonders hoch ist.

  • Es wäre interessant, einmal zu erfahren, wie die Strafsache, wenn sie denn eine ist, mit dem Geblöke "Hamas, Hamas, Juden ins Gas" ausgegangen ist oder wie sie weitergehn soll!

  • Danke Herr Wendt, Sie haben das Ganze wunderbar auf den Punkt gebracht. Was erlauben sich eigentlich die Israelis? Sie "kapern" einfach die Gedenkveranstaltung aus "nationalem Eigeninteresse". Dass der Kommentar ohne großen Widerspruch so stehenbleibt, wundert schon. Die Kritik von Wolffsohn an Steinis Rede war nach wenigen Stunden von der Hauptseite der "Welt" verschwunden. Steini war eigentlich gar nicht so schlimm. Vielleicht lag es daran, dass im Englischen seine moralinsaure Phraseologie nicht so stark zur Entfaltung kommt. Der Ort und der Anlass waren wahrscheinlich nicht dazu geeignet, eine Grundsatzrede über den heutigen Antisemitismus zu halten. Aber er spricht ja auch andernorts niemals Klartext, derweil in Ländern wie Frankreich und Schweden viele Juden schon auf gepackten Koffern sitzen.