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Der Geschichtsschinder geht um

Die Bundespräsidentenrede zum 30. Jahrestag der deutschen Einheit ist ein Skandal: Steinmeier versucht sich als oberster Agitprop-Historiker

Als der Bundespräsidentenkandidat Frank-Walter Steinmeier ausgeklügelt wurde, unter anderem in einer süddeutschen Staatskanzlei und gegen den Willen Angela Merkels, die damals unbedingt eine Grünen-Politikerin wollte, meinte einer seiner Unterstützer, der Sozialdemokrat habe zwar noch nie einen Satz von Erinnerungswert gesagt, aber auch noch nie etwas Falsches. Bei seinen künftigen Präsidentenreden könnte man also ganz ruhig bleiben.

So stellte sich damals die Ausgangslage dar. Die Erwartungen lagen nicht hoch. Die grotesk entgleiste Rede des Bundespräsidenten zum 30. Jahrestag der deutschen Einheit in Potsdam übertrifft beziehungsweise unterbietet nun alles, was Steinmeier bisher auf historischem und gesellschaftspolitischen Gebiet vorgetragen hatte.

Und das war schon in der Vergangenheit einiges. Bei Steinmeiers Ansprache im Thomas-Mann-Haus in Pacific Palisades 2018, um ein frühes Beispiel herauszugreifen, drängte sich dem Zuhörer die Frage auf: wer im Bellevue schreibt eigentlich seine Reden? Und spielt das Staatsoberhaupt eigentlich wie eine Jukebox jeden Text ab, mit dem ihn irgendjemand füttert? In Pacific Palisades sprach er zur Einweihung des restaurierten Thomas-Mann-Hauses. Zu diesem Anlass hätte sein Publikum, nun ja, ein wenig Spracharbeit erwarten können. Stattdessen fügte sich ein Rhetorikschrott an den nächsten, die „faschistische Verführbarkeit der Deutschen“  beispielsweise – also eine Adjektivverwendung ähnlich wie in „humanitärer Katastrophe“ oder „demokratische Zumutung“ (A. Merkel) – , gefolgt von der Warnung vor „selbsternannten Kämpfern gegen die sogenannten ‚Eliten’“.
Leider klärte der Präsident nicht darüber auf, wer Kämpfer gegen die Eliten ernennt, und warum es sich nur um so genannte Eliten handelt. Gibt es gar keine richtigen? Den „Zauberberg“ Thomas Manns, dem das Staatsoberhaupt sich aus unerfindlichen Gründen näherte, schrieb er – beziehungsweise sein Redenautor – seinerzeit mal eben um:

„In der jungen Weimarer Republik erwacht Thomas Mann aus dem völkischen Rausch. Im Zauberberg lässt er das Aufgeklärt-Rationale des Settembrini und das Völkisch-Irrationale des Naphta zum imaginären Wettstreit um die ‚deutsche Seele’ Hans Castorps antreten.“

Bei Leo Naphta, dem Steinmeier eine völkische Gesinnung anhängt, handelt es sich bei Thomas Mann um einen galizischen Juden und Jesuiten mit einer Liebe für das Mittelalter bei gleichzeitiger Sympathie für die Diktatur des Proletariats, er ist also ungefähr eine so völkische Figur wie Steinmeier ein literarischer Feingeist. Wer einen Roman im früheren Haus des Autors kontrafaktisch umdichten und in sein bundespräsidiales Raster von Hell und Dunkel quetschen kann, der wagt sich irgendwann auch an größere Brocken. Warum also am Nationalfeiertag nicht die Nationalgeschichte ein bisschen umarbeiten?

Mit der DDR, die vor dreißig Jahren endete, ist Steinmeier in seiner Rede schnell fertig. Das Kürzel SED kommt nicht vor, auch kein Wort zur Machtstruktur und zur tragenden Ideologie. Und nur eine kurze abschließende Formel (Roland Barthes) zur Gegenwart: „Ja, wir leben heute in dem besten Deutschland, das es jemals gegeben hat.“ Wenn die Staatsspitze das höchstselbst feststellt, wird es wohl stimmen. Darauf folgt die montypythonhafte Überleitung and now for something completely different:

„Jubiläen großer historischer Wendepunkte stehen für sich allein – meistens. In diesem Jahr hat das Gedenken an die nationale Einheit ein doppeltes Gesicht. Es ist ein denkwürdiger Zufall, dass sich ausgerechnet zum 30. Geburtstag der Wiedervereinigung auch die Gründung des ersten Nationalstaates vor 150 Jahren jährt. Dieser Zufall schärft unseren Blick. Denn wie gegensätzlich waren beide Ereignisse, wie verschieden die Ideen, die ihnen zugrunde lagen.“

Seltsam, bisher stehen als Daten der Reichsgründung der 1. Januar 1871 – die Verabschiedung der Verfassung – und die Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 in den Geschichtsbüchern. Dreißig Jahre Einheit und Ausrufung des Kaiserreichs fallen also weder im Oktober noch überhaupt in diesem Jahr zusammen, schon gar nicht ausgerechnet. „Dieser Zufall schärft unseren Blick.“ Je nun. Er möchte also zum Festakt eigentlich nicht über die DDR, sondern unbedingt über das Kaiserreich reden. Das klingt dann so:

„Die nationale Einheit 1871 wurde brutal erzwungen, mit Eisen und Blut, nach Kriegen mit unseren Nachbarn, gestützt auf die preußische Dominanz, auf Militarismus und Nationalismus.“ Etwas später spricht er von „Säbelrasseln und Eroberungskriegen“.

Brutal erzwungen? Eroberungskriege, gleich im Plural? Marschierte damals preußisches Militär in Sachsen und Bayern ein? Zur Erinnerung: Im Sommer 1870 bemühten sich die seit 1868 herrschenden spanischen Offiziere unter dem Putschisten Juan Prim immer noch um einen neuen König. Dafür fassten sie nach mehreren Absagen aus anderen Herrscherhäusern Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen ins Auge, Spross der katholischen Seitenlinie der Hohenzollern und Schwiegersohn des portugiesischen Königs. Leopold schien zunächst nicht abgeneigt. Die Regierung in Paris sah die bloße Aussicht auf Hohenzollern links und rechts von Frankreich als Provokation und verlangte von dem preußischen König Wilhelm I, Leopold die Kandidatur zu untersagen.

Der Preuße erklärte Frankreichs Botschafter Graf Vincent Benedetti zwar, das liege nicht in seiner Befugnis, allerdings war er nicht gewillt, Leopold zu ermutigen. Der sagte am 12. Juli endgültig ab. Damit hätte es sein Bewenden haben können. Das reichte Paris allerdings nicht, Außenminister Gramont forderte von Wilhelm I. eine öffentliche Garantie, nie wieder einen Thronkandidaten des Hauses Hohenzollern zu unterstützen – also eine förmliche Unterwerfung Preußens unter die französische Vormachtstellung. Als der König das gegenüber Benedetti am 13. Juli 1870 auf der Kurpromenade von Bad Ems erwartungsgemäß ablehnte, beschloss das Kabinett in Paris am Tag darauf die Mobilmachung, am 19. Juli erklärte es Preußen den Krieg.

Einen Präventivschlag gegen den als zu mächtig empfundenen Nachbarn wünschten führende französische Kreise seit langem, spätestens seit dem Sieg Preußens über Österreich in Königgrätz 1866. Eine Parole der Machtpolitiker lautete “Revanche pour Sadowa !” (so hieß die Schlacht von Königgrätz in Frankreich nach dem Dorf Sadowa). Ein Ziel des Feldzugs bestand darin, Frankreichs Grenze an den Rhein zu verlegen.
Der Krieg begann mit einem französischen Vorstoß auf Saarbrücken, endete vorläufig mit der Schlacht von Sedan, der Abdankung des Kaisers Napoleon III. und endgültig mit der Kapitulation der Republik, die den Krieg zunächst fortsetzte. Den von Frankreich begonnenen Krieg führten die deutschen Länder erfolgreich, weil ihre Einigung schon weit fortgeschritten war und die Bündnisverträge Preußens mit Bayern, Württemberg und den Mitgliedern des Norddeutschen Bundes griffen. Aus der Abwehr eines französischen Eroberungskriegs eine „brutal erzwungene“ Reichseinigung durch Preußen zu machen, „gestützt auf Militarismus und Nationalismus“, als hätte es den exklusiv auf deutscher Seite gegeben und nirgends sonst – eine so bizarre Geschichtsverdrehung fabrizierten noch nicht einmal DDR-Historiker. Aber damit endet Steinmeiers Parallelhistorie noch lange nicht:

„Wie grundsätzlich verschieden war 1871 von 1990. Mit eiserner Hand wurde im Kaiserreich nach innen durchregiert. Katholiken, Sozialisten, Juden galten als ‚Reichsfeinde’, wurden verfolgt, ausgegrenzt, eingesperrt; Frauen blieben von politischer Mitbestimmung ausgeschlossen.“

Spätestens hier muss man sich fragen: Ist der Mann irre? Juden als verfolgte Reichsfeinde, die, wie er insinuiert, eingesperrt wurden weil sie Juden waren? Beginnen wir mit dem Antisemitismus, der im Deutschen Kaiserreich tatsächlich existierte, und der Stellung der Juden ab 1871. Der Weg zur Emanzipation der Juden in Preußen war in der Tat lang. Am 15. Juni 1847 sagte Otto von Bismarck im Preußischen Landtag:

„Ich bin kein Feind der Juden […] Ich liebe sie sogar unter Umständen. Ich gönne ihnen auch alle Rechte, nur nicht das, in einem christlichen Staate ein obrigkeitliches Amt zu bekleiden. Ich gestehe ein, dass ich voller Vorurteile stecke, ich habe sie […] mit der Muttermilch eingesogen […] Ich teile die mit der Masse der niederen Schichten des Volkes und schäme mich dieser Gesellschaft nicht.“

Ganz nebenbei: welcher Politiker würde heute seine eigenen Vorurteile und Ambivalenzen öffentlich so aufblättern, wie es der damalige Abgeordnete Bismarck tat?

Schon als Kanzler des Norddeutschen Bundes dachte Bismarck anders als der Juncker von 1847, er unterzeichnete 1869 das Gesetz zur rechtlichen Gleichstellung der Juden:

„Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben.“

Die Verfassung von 1871 übernahm dieses Emanzipationsgesetz. Trotzdem gab es im Reich Antisemitismus, keine Frage. Wie stark er war, ließ sich an der so genannten Judenpetition von 1880 messen. Trotz prominenter Fürsprecher wie den Hofprediger Adolf Stoecker und den Pianisten Hans von Bülow erreichte die Forderung, Juden die bürgerlichen Rechte weitgehend zu nehmen, reichsweit gerade 225000 Unterschriften – bei einer Bevölkerung von gut 45 Millionen. In Süddeutschland fand der Vorstoß nur eine minimale Resonanz. Bismarck ließ erklären, seine Regierung gedenke an der rechtlichen Stellung von Juden nichts zu ändern.

In den Äußerungen von Kaiser Wilhelm II. finden sich judenfeindliche Äußerungen, aber auch judenfreundliche. Wer die Briefe und sonstigen Aufzeichnungen des Jugendfreundes Philipp zu Eulenburg ein wenig kennt, der weiß, dass Majestät, sprunghaft und leicht beeinflussbar, zuweilen nicht nur dreimal am Tag die Uniform wechselte, sondern auch mehrmals seine Meinung zu allem möglichen. Umso interessanter der Blick auf das, was bei ihm länger hielt. Etwa seine Freundschaft zu dem jüdischen Reeder Albert Ballin. Ihn besuchte er sogar in dessen Hamburger Villa und durchbrach damit die ungeschriebene Regel, nach der sich ein König und Kaiser nicht als Besucher in ein bürgerliches Haus begibt.

Für den Kreis der jüdischen Freunde und Bekannten um Wilhelm II., Walther Rathenau, den Mäzen James Simon und andere prägte der spätere israelische Staatspräsident Chaim Weizmann den Begriff „Kaiserjuden“. Im Jahr 1907 ernannte der Kaiser den aus einer jüdischen Familie und zum Protestantismus konvertierten Bankier Bernhard Dernburg zum Chef des Reichskolonialamtes, den jüdischen Bankier Eduard Arnhold berief er 1913 zum Mitglied des Preußischen Herrenhauses. Das alles macht den Antisemitismus im kaiserlichen Deutschland nicht zur Marginalie, aber es gehört eben zum ganzen Bild.

In der Elite des Reichs pflegten etliche Adlige und Bürgerliche antijüdische Vorurteile, allerdings muss man lange suchen, um derartig hasszerfressene antisemitische Ausfälle zu finden wie bei Karl Marx, der Lassalle einen „jiddischen Nigger“ nannte.
Und fraglos gab es das Sozialistengesetz und den Kulturkampf gegen die katholische Kirche, die „Ultramontanen“. Aber Sozialdemokraten konnten sich unter nur leichter Tarnung als Sportvereine oder Klubs weiter treffen, Einzelkandidaten für Parlamente kandidieren, die in der Schweiz gedruckte Zeitung „Der Sozialdemokrat“ fand durch das von Julius Motteler organisierte Vertriebssystem ihre Adressaten im ganzen Reich. Sowohl die Regierung als auch die anderen Parteien achteten strikt darauf, die Sozialdemokraten nicht durch das parlamentarische Prozedere zu bekämpfen. Der Hinweis ist nicht uninteressant, da im besten Deutschland aller Zeiten die Bundestagsmehrheit der größten Oppositionspartei seit drei Jahren die Position eines stellvertretenden Parlamentspräsidenten verweigert. Im Jahr 1890 fiel das Sozialistengesetz; schon bei den Reichstagswahlen 1887 hatten die Kandidaten der eigentlich noch verbotenen Partei mehr als 700 000 Stimmen bekommen. Das war möglich, weil eben nicht, wie Steinmeier wähnt, „mit eiserner Hand durchregiert wurde“.

Der ebenfalls fruchtlose Kulturkampf endete mit der Ära von Wilhelm II. Dessen erste Auslandsreise führte ihn im Oktober 1888 demonstrativ nach Rom zum König und der italienischen Regierung, aber auch zu Papst Leo XIII. Ressentiments gegen Juden, Verfolgung von Sozialdemokraten und Katholiken, das alles findet sich also in der Kaiserreichsgeschichte, aber eben auch vieles andere, es ergibt sich ein komplexes historisches Bild aus vielen Schichten. Bei Steinmeier wird es zur plumpen Karikatur, zu einer Aneinanderreihung agitatorischer Überschriften ohne jeden Willen zur Ambivalenz.

„Es war ein kurzer Weg von der Gründung des Kaiserreichs bis zur Katastrophe des Ersten Weltkrieges“, behauptet Steinmeier in seiner Abrechnung. Was schon kalendarisch nicht stimmt, der Weltkrieg kam erst nach mehr als drei Jahrzehnten bei einer Gesamtdauer der Monarchie von 47 Jahren. Und es gab eben nicht den einen schon 1871 vorgezeichneten „Weg“ in den Weltkrieg. Der Bundespräsident scheint sich an die Alleinschuldthese von Fritz Fischer zu klammern („Griff nach der Weltmacht“), die heute kein ernstzunehmender Historiker mehr vertritt. Aber wer in Preußen-Deutschland schon den Kriegsschuldigen von 1871 sieht, für den muss Fischer zwangsläufig Goldstandard sein.

Noch ein Wort zu den im Kaiserreich von der Politik ausgeschlossenen Frauen: Sie konnten Mitglied von Parteien und Vereinen sein, bekamen allerdings erst im November 1918 das allgemeine Stimmrecht. Da hat Steinmeier Recht, wie nur ein Rechthaber rechthaben kann. Damit gehörte das Deutsche Reich allerdings zu den Staaten in Europa, die das Frauenwahlrecht früh einführten. In Großbritannien war das erst 1928 der Fall, in Frankreich 1944, in der Schweiz 1971. Trotzdem würde niemand bei Sinnen das Vereinigte Königreich, Frankreich und die Schweiz vor dem jeweiligen Zeitpunkt als Halbdiktatur zeichnen, wie es Steinmeier mit dem kaiserlichen Deutschland tut.

Entweder besitzt Steinmeier (beziehungsweise sein Redenschreiber) überhaupt kein tieferes Geschichtsbild, sondern nur einen Zettelkasten voller einseitig sortierter Sekundärquellen. Oder er will dieses mit breitestem Pinsel à la Parteilehrjahr gekleisterte Historiengemälde unbedingt zum Nationalfeiertag abliefern, obwohl er weiß, welchen Schund er produziert. Bleibt das Rätsel: Warum arbeitet sich das Staatsoberhaupt am 3. Oktober überhaupt am Kaiserreich ab, als hätte vor dreißig Jahren nicht die DDR endgültig abgedankt, sondern Wilhelm der Letzte? Damit der Redner nicht über die DDR sprechen muss? Gibt es dafür einen Grund?

In einer Sonderausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“, erschienen in dem von der DDR verdeckt finanzierten Pahl-Rugenstein Verlag, schrieb der nicht mehr ganz junge Jurist Frank-Walter Steinmeier 1990 über die bevorstehende und von ihm abgelehnte Vereinigung der beiden deutschen Staaten:

„Es führt keine demokratische Brücke von der Verfassung der BRD zur Verfassung des Neuen Deutschland.“

Eine Vereinigung ginge zu Lasten der DDR, denn die bekäme „nicht einmal die Chance, ihre Geschichte, ihre Besonderheit, ihre Utopien, vielleicht ihre Identität in den Einigungsprozeß einzubringen“.

Der Steinmeier von 1990 klingt mehr oder weniger wie der von 2020. Es ist die gleiche auf schweren Füßen dahinstampfende undialektische Sprache, in der sich kein Begriff intellektuell entwickelt. Dass diejenigen, die im Oktober 1989 in Leipzig auf die Straße gegangen waren, unter „Utopien“ vielleicht etwas anderes verstanden als ein Redakteur des Neuen Deutschland, kam ihm offenbar gar nicht in den Sinn.

Bei vielen Gelegenheiten servierte Steinmeier bisher seine Redephrase, wir müssten in Ost und West einander unsere Geschichten erzählen. Die Geschichte, wie er als typischer Vertreter des westdeutschen linken Lagers 1990 die Einheit nicht wollte, erzählt er leider nie. Schade, denn die wäre möglicherweise sogar interessant. Sein Lob für „Mut und die Entschiedenheit der Bürgerrechtler und der Friedlichen Revolutionäre“ wäre dann nicht ganz so hohl durch seine Potsdamer Ansprache geklappert.

In seiner Rede im Thomas-Mann-Haus 2018 meinte Steinmeier, der Weg des Schriftstellers vom Autor der „Betrachtungen eines Unpolitischen“ zum Verteidiger der Demokratie lehre ihn, den Bundespräsidenten, „Demut“. Das bleibt wie alles bei Steinmeier eine rhetorische Pappfigur. Einen „Präsident der Phrasen“  hatte ihn die Neue Zürcher Zeitung vor einiger Zeit genannt. Spätestens seit seiner Einheitsfeierrede reicht diese Kennzeichnung nicht mehr. Er ist auch der Präsident der Geschichtsverdrehung, des agitatorischen Eifers, des Ressentiments. Einer, der es fertigbringt, über die Vereinigung von 1990 zu sprechen, ohne dabei den Namen Helmut Kohls auch nur zu erwähnen. Im Bundespräsidialamt arbeiten auch kundige, gebildete Beamte. Schämen sie sich manchmal für diese Figur an der Hausspitze?

Und in den großen Redaktionen des Landes: Warum schneidet dort keiner diesen Sulz aus Geschichtsschinderei und bräsiger Selbstbestätigung in Scheiben? Weil das, wie wahrscheinlich jemand am Konferenztisch steinmeieresk mahnt, nur wieder Wasser auf die Mühlen der Falschen wäre?
„Die öffentliche Meinung ist oft von großer Langmut gegenüber mangelnder Sorgfaltspflicht im Umgang mit Fakten, und die Demokratie ist es auch: Man darf alles meinen und glauben, allerdings kann und sollte man nicht erwarten, dass das folgenlos bleibt“, redete Steinmeier kurz nach seiner Einheitsfeieransprache vor Führungskräften des Springer-Verlags.

Für ihn bleibt es folgenlos. Um auf den eingangs zitierten Politiker zurückzukommen: Bei Steinmeier können sich alle sicher sein, dass er weiter das Kaiserreich, Trump, die Opposition und alle Selbsternannten kritisieren wird, aber nie ein Wort fallen lässt, mit dem er das Juste Milieu im Regierungsviertel verärgern könnte. Schließlich möchte er wiedergewählt werden.
Er kann noch so viele falsche, schiefe und groteske Sätze sagen – etwas in diesem Sinn Falsches sagt er nie.

 

 


Dieser Text erscheint auch auf Tichys Einblick.

 


 

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Alexander Wendt: Weitere Profile:

Kommentare anzeigen (30)

  • Na immerhin unterschreibt er Labrechts Hassgesetz nicht, einen rechtskundigen Berater wird er also haben.

  • Was soll man nur zu dieser geschichtsklitternden Farce sagen, die der Herr Bundespräsident uns mit einer solchen epochal dummen Rede zumutet? Wenn derlei Unfug wenigstens so breit kommuniziert würde, daß sich jegliche Diskussion um eine - horribile dictu - Wiederwahl erübrigte! So aber muß man befürchten, daß das "selbsternannte" breite Bündnis der Demokraten uns weitere Jahre dieser Art von gehirnerweichenden Hypermoralpredigten bescheren wird. So bleibt als Trost, daß es vielleicht hier und da Lehrerinnen und Lehrer geben wird, die in ihrem Politik- und Geschichtsunterricht diese Rede als Anschauungsmaterial für Quellen- und Sprachkritik sowie den Umgang mit "fake news" heranziehen. Denn eines ist die Rede gewiß: eine Steilvorlage für Autoritätskritik. Oder wie Marie von Ebner-Eschenbach treffend gesagt hat: "Wer nichts weiß, muß alles glauben."

  • Als ich im Radio hörte, dass sich Steinmeier im besten Deutschland aller Zeiten wähnt, konnte ich diese Unverschämtheit nicht fassen, obwohl ich in den vergangenen Jahren diesbezüglich sehr abgestumpft bin und man diese dumme Phrase ja schon oft von anderen gehört hatte. Aber aus Anlass des DDR-Endes vor 30 Jahren dem Untertanen als Bundespräsident so etwas an den Kopf zu werfen, ist tatsächlich irre! Seit Jahren immer mehr und hysterischer werdende Klagen über die "Spaltung des Landes", die immer schamlosere Verleumdung immer größerer Bevölkerungsschichten als -feinde und -leugner etc. und dann diese frontale Kampfansage, praktisch eine Kriegserklärung an Teile des Volkes, wo doch sonst immer die einende Funktion des Amtes betont wird. Das ist nicht zu fassen!

  • Zu Steinmeier fällt mir nichts ein - das hat er mit dem gesamten Kader der Politbürokratie gemein. Aber wer Interesse an der deutschen und europäischen Geschichte jenseits ihrer ideologischen Verwertung durch dieselbe hat, dem empfehle ich gern Klaus-Jürgen Bremm „70/71 – Preußens Triumph über Frankreich und die Folgen“.
    Ein Symptom kultureller Verwahrlosung in der DDR wie anderen totalitären Systemen ist ja die fortwährende Anpassung von Geschichte ans Bedürfnis der Kader nach informeller Macht ("Deutungshoheit"), die mittels Zensur und braunen oder roten "Wir-sind-mehr"-Chören brachial durchgesetzt wird. Selbst wenn einer dem Wirken Helmut Kohls kritisch gegenübersteht, muss er bestürzt konstatieren, dass diese Verwahrlosung innerhalb der vergangenen 30 Jahre unvorstellbar weit fortgeschritten ist. Danke an Alexander Wendt, dass er zumindest die gröbsten Entstellungen Steinmeiers korrigiert.

  • Der Mann ist eine Peinlichkeit ersten Ranges und in Anbetracht des Amtes, dass er eigentlich ausfüllen sollte, eine Schande für das ganze Land. Zugleich ist er symptomatisch für die herrschenden Politkreise. Auch daran, wenn auch nicht ausschließlich, wird die BRD im Ausland gemessen.

  • Das gibt es noch: Ein Staatsoberhaupt, das seine linken Propagandaphrasen glaubt und schamlos überall zum besten gibt.

    • Ich bringe bei Typen wie Steinmeier die Höflichkeit nicht auf, ihm Dummheit oder fehlende Kenntnisse zuzugestehn, ich unterstelle solchen Absicht. Aber es ehrt natürlich den Kritiker, beim Kritisierten das harmloseste Motiv zu unterstellen.

  • Im Bericht wird wiederholt auf den Redenschreiber des Herrn Präsidenten Bezug genommen. Wer seine Reden schreibt, ist vielleicht intern dafür verantwortlich, aber nach außen ist es der Redner selbst, der dafür die Verantwortung trägt. Früher haben nicht wenige Bürger sich über die unglücklichen Formulierungen des Präsidenten Lübke im Ausland im deutschen Namen lustig gemacht. Was bloß soll man von diesem Parteisoldaten, der immerhin Staatsoberhaupt ist, halten, der angeblich für alle Deutschen spricht?

    Was ich hier lesen muss, läßt mich sprachlos zurück. So viele nachweisbare sachliche Fehler in seinen Reden und so wenig guten Willen kann ich bei Herrn Steinmeier erkennen, uns in Deutschland, ob von links oder rechts, positiv anzusprechen und uns zu einen, ganz so, wie es Trump in den USA versucht. Ja, Trump. Lesen Sie mal seine Reden. Da kann man sich bei der Politikergarde ggf. eine Scheibe von abschneiden, wenn man denn wollte.

    Danke, Herr Wendt, für Ihre erneut erstklassige Aufklärung, die viel mehr Verbreitung verdient hat.

  • Eines fernen Tages werden Dissertationen über die Ursachen und Folgen des derzeitigen Niedergangs angefertigt werden, das ist mal sicher.
    Ebenso sicher ist auch, daß die Einlassungen des aktuell amtierenden Bundespräsidenten eine wichtige Quelle zur Darstellung der geistigen Armut des heutigen deutschen Staates sein werden.
    Der hier vorliegende Artikel wird eine wertvolle Hilfe sein bei der tiefergehenden Analyse einer intellektuellen Degeneration, zu der dieser Präsidentendarsteller mit jeder neuen Rede seinen Teil beiträgt.
    Man wird Sie zitieren, Herr Wendt, hoffentlich mit Quellenangabe.

    • Die Zukunft wird ganz anders sein. Es ist höchst ungewiss, dass da solche Dissertationen geschrieben werden.

      • Doch, die Zukunft wird bestimmt ziemlich so sein und es werden sicher große Abhandlungen über diesen Niedergang geschrieben werden. Nur nicht in den hiesigen Landen, sondern irgendwo anders, vermutlich weit weg.

  • Ein brillanter Text, der tief in die Geschichte zurückgeht und uns Tatsachen vor Augen führt wie die Kriegserklärung Frankreichs an Preußen. Allerdings sollte auch Bismarcks doppeltes Spiel mit der verkürzten Depesche nicht vergessen werden, die wohl bewusst den Verzicht auf den Thronverzicht zuspitzte. Jedenfalls ist der jetztige Bundespräsident eine komplette Fehlbesetzung - große Vorgänger wie von Weizsäcker haderten immer wenig oder viel mit den Mächtigen. Steini dagegen gibt sich als verlängerter Arm von Regierung und Antifa aus.

    • Moltke habe etwa 2 Jahre vor dem Krieg einen Präventivschlag gewünscht, da Frankreich gegen Preußen rüste. Bismarck sah das auch so, war aber der Meinung, dass man dem Frieden eine Chance lassen sollte. Nichts von kriegslüstern.
      Ich entsinne mich aber an einen französischen Präsidenten namens Hollande, der "ganz geil" auf einen Luftschlag gegen Syrien war. Vermutlich war Britanniens "No" die Bremse. Heute ist die Welt voller Präventivkriege.