Warum uns die lieblose Kirche auch zu Weihnachten nicht weiter stört
In der Bibel finden sich viele Stellen, die sich manchem vielleicht sofort öffnen, vielen aber auch erst nach dem zweiten, dritten Lesen oder noch später. Öffnen bedeutet, dass sich durch einen Satz, manchmal auch durch ein einziges Wort ein ganzer Raum erschließt. Der Schluss des ersten Korintherbriefs gehört zu diesen Passagen im eigentlichen Sinn, also Durchlassstellen.
Dort heißt es bekanntlich: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Das gibt Grund zum Staunen. Von einem religiösen Text würde man erwarten, dass er den Glauben an die erste Stelle setzt.Der Begriff Liebe, caritas, griechisch ἀγάπη, meint die fürsorgliche, die umfassende Liebe, ohne sie näher zu bestimmen, was auch immer bedeuten würde, ihr Grenzen zu setzen. Er kann die Liebe zwischen zwei Liebenden meinen, zu der auch immer Fürsorge gehört, die familiäre Liebe, die Liebe zu Menschen in der Nähe (Liebe braucht immer Konkretisierung), aber auch die Liebe zu sich selbst, ohne die niemand andere lieben kann. Jedenfalls handelt es sich um einen weltlichen Liebesbegriff. Dass er trotzdem über den beiden anderen thront, überrascht im ersten Moment, im zweiten dann doch nicht so sehr. Die Bibel richtet sich schließlich an Menschen. Der Korintherbrief nennt die Liebe nicht nur groß, sie reicht auch weiter als die Vernunft, sogar weiter als das, was sich aussprechen lässt: „Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird.“
Die deutschen Amtskirchen verbreiten schon länger keinen Glauben mehr, der über diese Welt hinausreicht. Nach Hoffnung sollte man ihre Funktionäre besser nicht fragen. Am deutlichsten fällt allerdings ihre Lieblosigkeit auf. Der in Durham lehrende Theologe Jan Dochhorn, Autor bei Publico, nennt die offiziös geprägten Kirchen „Orte der Leere, wobei Leere und Schweigen als zwei sehr unterschiedliche Dinge anzusehen sind“. Er meint eine spirituelle Leere, während sich die Amtskirchenrepräsentanten, die klingenden Schellen, redselig, ja sogar geschwätzig geben. In einem Interview kurz vor Weihnachten erklärte Synoden-Präses Anna-Nicole Heinrich ausführlich, warum Mandatsträger einer bestimmten Partei in der EKD keine Kirchenämter ausüben dürften. Sie meinte auch in einer von ihr offenbar als großzügig verstandenen rhetorischen Geste, die Kirchen ihres Bereichs würden zumindest nicht das Wahlverhalten von Gottesdienstbesuchern abfragen. Das klang bei ihr so, als wenn sie diese Nachlässigkeit bedauern würde. Wüssten die Zuständigen in ihrem jeweiligen Sprengel darüber Bescheid, müssten höchstwahrscheinlich noch mehr Kirchgänger in Zukunft draußen bleiben, ähnlich wie Nichtgeimpfte während der Coronazeit. Die Zuständigen, das nur als Fußnote, heißen bei der EKD seit einiger Zeit Pfarrperson.
Wie Matthias Heine in seinem Buch „Der große Sprachumbau“ schreibt, rufen einige Pfarrpersonen in ihren Predigten mittlerweile die „Heilige Geistkraft“ an, vermutlich, damit sich kein Geist ausgeschlossen fühlt. Eine evangelische Kirche in Norddeutschland bietet Pole Dance an, anderswo kümmert man sich ökumenisch um die postkoloniale Schuldaufarbeitung für beide Kirchen.
Kurzum, insbesondere bei der evangelischen Funktionärskirche handelt es sich halb um einen hässlichen Verwaltungstrakt, halb um einen Amüsierbetrieb für den Apparat. „Die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf“, heißt es in dem Korintherbrief. Diese Kirche liefert den exakten Gegenentwurf. Es gibt sicherlich Gemeinden mit guten Pfarrern und Pfarrerinnen, und die katholische Kirche bedeutete und umfasste schon immer mehr als nur Immobilien, Apparat und Laien. Hier liegt die Pointe des Bibelsatzes von Liebe, Glaube und Hoffnung: Etwas so Persönliches wie Liebe zu geben und zu bekommen, das kann jeder selbst tun und erfahren. Lieblose Präses- und Bischofspersonen stören dabei nicht. Das gilt für Kirchgänger, für kirchenlose Christen und Agnostiker sowieso.
Liebe stellt keine Bedingungen. Sie verlangt noch nicht einmal ausgesprochene Gründe. Der Satz von den drei Tugenden spiegelt sich in einem anderen berühmten Bibelwort, dem von Jesus: „Und seid gewiss: Ich bin jeden Tag bei euch, bis zum Ende der Welt.“ Auch hier fällt erst auf den zweiten Blick auf, dass er dafür keine Gegenleistung verlangt, dass er also nicht fordert, die Menschen müssten ihm dafür auch folgen. Seine Versicherung lautet also: Ich bleibe bei euch, selbst wenn ihr euch von mir abwendet. Das macht seinen Satz groß, nicht nur für Mitglieder der Kirche. Er rührt jeden an. Liebe ist kein Vertrag. Sie ist kein Handel. Sie reicht weiter als jede Erkenntnis. Als weltliche Größe ist sie deshalb nicht ganz von dieser Welt. Selbst der rationalste Mensch muss hier endlich keine Gründe mehr suchen. Er muss überhaupt nicht mehr suchen.
Wer liebt, auf welche Art auch immer, der ist schon angekommen.
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Heidi Bohley
25.12.2025So ein schöner Text! Danke, lieber Alexander Wendt.