Die autoritäre Ideologie tritt in ihre große Remix-Phase: Es kommt alles aus dem 20. Jahrhundert wieder, Marschblocks, Schwarzhemden, Reinigung von Bibliotheken – aber jetzt unter progressivem Banner. Es gibt offenbar kaum einen Linken, den das stört


Der Sozialismus in der DDR, meinte die Linksparteichefin Heidi Reichinnek kürzlich, sei gar nicht der richtige Sozialismus gewesen, woraus sie ableiten wollte, dass ihrer Partei und deren Verbündeten noch ein Schuss freisteht.

Mit einer halben Westwährung, dem Goldschatz der Bundesbank und ein paar tausend zäher Unternehmen, die trotz aller Zumutungen immer noch leben, lässt sich natürlich mehr veranstalten als seinerzeit 1949 in einem kriegsruinierten Teilstück, das auch vierzig Jahre später nicht wesentlich besser aussah.

Nun kennt man die Formel seit Jahrzehnten; der wahre Sozialismus kommt immer erst noch, bei dem alten handelt es sich um eine gut gemeinte, aber dann doch suboptimal verlaufene Vorvariante. Ein bisschen erinnert das an den berühmten Satz des jüdischen Spaßmachers Hersch Ostropoler, er sei eigentlich ein schönes Kind gewesen und in der Wiege gegen ein hässliches vertauscht worden. In einem Punkt liegt Reichinnek schon richtig: Der nächste Versuch sieht immer anders aus. Politische Schadprogramme unterliegen einem beinahe organischen Wandel. Man steigt niemals in denselben Stuss. Dazu kommt noch ein anderer Punkt, nämlich eine unübersehbare Erschöpfung der Ewigmorgigen. In den vergangenen reichlich hundert Jahren probierten sie wirklich fast alle denkbaren Varianten aus, um die neue Gesellschaft und den dazu passenden neuen Menschen herzustellen, erst in Europa, dann auch in Asien und Südamerika. Bei allen Unterschieden zwischen den Experimenten fielen die Ergebnisse dann doch recht ähnlich aus. Entweder endete der Versuch mit einem Kollaps (die freundlichste Variante) oder er quält sich als gewaltsam konserviertes Elend weiter (Nordkorea, Kuba, Venezuela). Am besten lebten und leben die Gesellschaftsüberwinder immer noch als Profiteure der westbürgerlichen Wirtsgesellschaft, die sie weitgehend in Ruhe lässt, was umgekehrt, wenn die Systemüberwinder so könnten, wie sie planen, niemals der Fall wäre.

Die Geschichte des etwas weiter gefassten Autoritarismus bildet eine große Klammer; es findet sich darin die Parteidiktatur, das Konzept der kulturellen Dominanz nach Gramsci, die antiwestliche Theorie eines Frantz Fanon, der Chavismus, aber auch Elemente, die im italienischen Faschismus und im Nationalsozialismus hervorragend gediehen. Es geht den Transformatoren der Gegenwart deshalb ein bisschen wie den Designern von Modefirmen mit hundertjähriger Tradition: Irgendwann schaut man sehr gründlich ins Archiv, bevor man wieder ans Zeichenbrett geht. Es bricht die große Zeit des Remix an. Ein altes chinesisches Sprichwort rät, in die Vergangenheit zu schauen, um die Zukunft zu erkennen. Die autoritäre Gesellschaftsvorstellung, die mittlerweile Freunde selbst in Parteien mit bürgerlicher Benutzeroberfläche findet, in Universitäten, Medien und der EU sowieso, dieses Ideengebäude also unterscheidet sich von allen Vorgängern dadurch, dass es komplett aus wiederverwerteten Bausteinen verschiedener Stilepochen besteht. Darin drückt sich eine intellektuelle Sparsamkeit aus: Wem nichts wesentlich Neues einfällt, der muss eben nehmen, was griffbereit daliegt.

Um die Besonderheiten dieses Gebäudes wahrzunehmen, muss man einen kleinen Rundgang unternehmen. Die Erkundungstour beginnt mit einem Interview, das der ZDF-Humorbeauftragte Jan Böhmermann kürzlich der Süddeutschen gab. Dort heißt es zu einem AfD-Verbot: „Wir sind doch keine Weicheier! Wir sollten das dringend erforderliche Verbotsverfahren nicht nur unter dem Angsthasen-Blickwinkel betrachten: Klappt das oder nicht? Wir sollten den Rücken durchdrücken und sagen: Wir, die wehrhaften, mutigen Demokraten, werden das natürlich schaffen.“ In der traditionellen, also jedenfalls noch förmlich geltenden Verfassungsordnung entscheiden acht Juristen des Bundesverfassungsgerichts über ein Parteiverbot. Den Antrag dazu können nur die Verfassungsorgane stellen. Vor allem soll es – wiederum ganz formell, aber eben noch auf dem Papier gültig – bei der Verbotsentscheidung auf juristische Argumente ankommen, und gerade nicht auf den politischen Willen, eine Oppositionspartei zu beseitigen, und schon gar nicht auf ein Druckmacherkollektiv mit straffer Rückenhaltung. Nach Böhmermanns Ansicht, die etliche Personen mit weniger oder mehr Einfluss teilen, führen Gericht und Verfassungsorgane allerdings nur den politischen Willen der oben beschriebenen Formation aus. Anders lässt sich sein „Wir werden das natürlich schaffen“ gar nicht verstehen. Böhmermanns Sprachbild kommt in dem Gespräch gleich noch einmal vor: „Wir sollten den Rücken durchdrücken – immer in Kooperation. Aber einige Demokraten scheinen vor den Rechten lieber zu kuschen, als Haltung zu zeigen.“
Wie viele andere spricht er nicht von ‚‘rechtsextrem‘, sondern „Rechten“, es geht also um einen nicht gerade kleinen Teil des politischen Spektrums. Damit befindet er sich grundsätzlich in der Nähe des Bundespräsidenten, der bekanntlich in Zusammenstehen, Unterhaken und Schulterschluss das gesellschaftliche Ideal schlechthin sieht. In seiner Rede zum 9. November berief er sich unter anderem auf den amerikanischen Politikwissenschaftler Daniel Ziblatt, der in einem gemeinsam mit seinem Kollegen Steven Levitsky verfassten Text schrieb: „Die Mainstreamparteien müssen eine geschlossene Front bilden, um Extremisten zu schlagen“.

Böhmermann geht aber noch einen deutlichen Stechschritt darüber hinaus. Keine Weicheier, Rücken durchdrücken, nicht kuschen, Haltung und eine geschlossene Front, die sich der ZDF-Mann augenscheinlich ebenfalls wünscht – manchem älteren Ostdeutschen und einigen gesamtdeutschen sehr Alten kommt das nicht unbekannt vor. Übrigens: Auch die durchaus schon einmal, ja mehrfach benutzte Formulierung die Samthandschuhe ausziehen gehört wieder zum mehr oder weniger offiziellen Sprachschatz.

Die oben skizzierten Begriffe fassen auch jenseits der ausgewählten Großstadtquartiere Fuß. Nicht von allein natürlich und nicht an privaten Küchentischen, aber beispielsweise bei der Demokratiekonferenz Mettmann, gefördert aus dem unerschöpflichen Bundesprogramm „Demokratie leben!“. Dort erfahren potenzielle Teilnehmer, dass in einer Demokratie keine veralteten Instrumente wie Gewaltenteilung und Abwehrrechte gegen den Staat zählen, sondern die schon erwähnte Haltung.

Welche genau, fanden die Gestalter des schönen Schaubilds mit Erklärfrau am Pult, das müssten sie gar nicht ausbuchstabieren. Wer in provozierender Absicht (was denn sonst?) danach fragt, der muss auf eine geschlossene Front durchgedrückter Rücken treffen. Dass dabei keiner aus der Reihe tanzt, können Jugendliche gar nicht früh genug lernen. Im Deutschlandfunk erklärte kürzlich ein Mann namens Fritz Höfler, vermutlich Experte, was vor allem die Jüngeren von Bienen lernen sollten. Die Aussage fanden die Radiomacher so bedeutend, dass sie eine sogenannte Social-Media-Kachel daraus bastelten:
„‘Das Bienenvolk’“, so Nutzanwendung, „’macht vor, wie wir Menschen uns zu verhalten haben’, sagt Fritz Höfler, das Individuum stelle sich in den Dienst der Gemeinschaft. Den Schülerinnen und Schülern werde vermittelt: Gemeinsames Handeln kann mehr bewirken als Alleingänge.‘“

Sollte an diesem Punkt des kleinen Rundgangs jemand fragen, ob es denn schon die passenden Uniformen für den Gemeinschaftsdienst gibt, und sich dabei vorwitzig fühlen: Ja, sie befinden sich längst im Einsatz. Wenn gerade so vieles aus dem Geschichtsfundus wiederkehrt, warum nicht auch die Camicie nere? Leicht abgewandelt selbstredend, wie sich das für eine Wiederverwendung gehört, siehe hier. Und auch bei diesem ordentlich aufgereihten Block handelt es sich nicht um die von Zivilgesellschaftlern sogenannte und Schulter an Schulter bekämpfte Höcke-Jugend, sondern deren Erzfeinde:

Zum großen Rückgriff gehören auch die Märsche durchs Brandenburger Tor unter dem Motto „Wir sind mehr“, die sich nicht gegen Rechtsextremismus und auch nicht exklusiv gegen die AfD richten, sondern ihr Angriffsziel sehr viel weiter fassen. Sie finden in der Tagesvariante statt, es gibt allerdings auch nächtliche, mit Handylampen illuminierte Züge auf der historischen Strecke. Es bleiben nicht viele Möglichkeiten, um diese Ästhetik von Dienst an der Gemeinschaft, Wirsindmehr, Schwarzhemden und Elektrofackelaufzügen zu deuten. Entweder bringen autoritär-totalitäre Bewegungen zu jeder Zeit aus sich selbst heraus sehr ähnliche Symboliken hervor. Oder die meisten, die sich zur Zivilgesellschaft inklusive politisch ausdrücklich ermunterter schlagender Verbindungen zählen, wissen praktisch nichts über die Geschichte, weshalb sie nicht merken, woher sie ihre Anleihen nehmen. Die dritte Variante lautet, dass es zumindest einige doch wissen, wenn vielleicht auch nur vage, aber meinen, dass es beim Einsatz bestimmter Mittel eben ganz auf den Anwender ankommt.

Es geht um Anwendung, also längst nicht mehr nur um Ideen. Ein Theoriegebäude dient immer nur als Sammlungs- und Ausgangspunkt. Anfang November versuchte ein linksautoritäres Bündnis aus Antifa, einer aus dem „Demokratie leben!“-Topf finanzierten Organisation und lokalen Politikern, die Buchmesse „SeitenWechsel“ in Halle, wie es hieß, durch „zivilgesellschaftlichen Druck“ zu verhindern. Der Druck reichte dann doch nicht ganz, beziehungsweise: Die Veranstalter erwiesen sich als zu hartnäckig. Aber immerhin entdeckten wachsame Beobachter anschließend, dass die Plattform „Deutscher Bildungsserver“ auf die Literaturveranstaltung hinwies.

Auf T-Online erschien ein längerer Beitrag, in dem es erstens darum ging, wie so etwas passieren konnte, und zweitens, wie sich solche Lücken in der geschlossenen Front ein für alle Mal verhindern lassen. „Eingesickert war sie“ (nämlich die Meldung, dass in Halle eine Buchmesse stattfand) „auch auf einer Plattform, die ein Gemeinschaftsservice von Bund und Ländern ist und Orientierung, Transparenz und Zugang zu verlässlichen Bildungsinformationen verspricht“, so der Text: „Die Messe stand in der Veranstaltungsübersicht des Deutschen Bildungsservers. Dieser nennt sich selbst ‘Ihr Wegweiser zu Bildung‘. Jetzt geht es darum, wie die Messe auf der redaktionell betreuten Seite gelandet ist – und dass so etwas nicht mehr vorkommen soll.“ Der zentrale T-Online-Satz lautete: „Eintrag fiel fast sechs Wochen lang nicht auf.“ Selbstverständlich gilt ab jetzt das Motto: nie wieder. Die Verantwortlichen des Bildungsservers sicherten zu, künftig jeden Eintrag per Vieraugenprinzip zu überprüfen und baten um Entschuldigung für ihre Nachlässigkeit. Schon ein großer russischer Theoretiker der Zivilgesellschaft wusste: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

Kurz nach der Selbstkritik und Maßnahmenergreifung beim Bildungsserver entschied der staatlich finanzierte Bibliotheksverbund der norddeutschen Länder, die Berliner „Bibliothek des Konservatismus“ (BdK) zum Jahresende aus ihrem Netzwerk auszuschließen. Und zwar ohne jede Begründung. Bei der 2012 gegründeten BdK, getragen von der Förderstiftung konservative Bildung und Forschung, handelt es sich um die größte Sammlung konservativer Literatur in Deutschland, zu deren Bestand gut 35000 Bände gehören. Durch den Ausschluss würde sie für die meisten, die nach konservativer Literatur suchen, praktisch unsichtbar. Titel ließen sich nicht mehr recherchieren, die Möglichkeit, Bände von anderen Bibliotheken aus per Fernleihe zu besorgen, fiele weg. Die staatlich finanzierte „Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin“ hält die „Bibliothek des Konservatismus“ schon seit längerem für eine hochgefährliche Stätte, die der Staat mit polithygienischen Maßnahmen bekämpfen sollte. Jetzt scheinen die Bemühungen endlich zu fruchten.

Die Beratungsstelle kümmert sich allerdings in dieser Hinsicht ganz allgemein um das Bibliothekswesen, dem sie bundesweit eine „enge Kontextualisierung“ von Büchern im Bestand empfiehlt, die nicht den Anforderungen der angestrebten neuen Ordnung entsprechen: „Einzelne Medien werden ganz direkt mit Informationen zur Einordnung versehen, etwa Rezensionen oder Faktenchecks. Das Material wird entweder physisch den Medien beigelegt – wobei z.B. auch mit Aufklebern oder QR-Codes gearbeitet werden kann – oder online über die Katalogdaten angefügt.“ Der Warnhinweis gilt allerdings nur für Bücher, die schon im Regal stehen. Grundsätzlich rät die „Mobile Beratung“ Bibliothekaren, ganz genau zu überlegen, ob sie rechte Literatur überhaupt erwerben sollten. Denn: „Bibliotheken schaffen Publikationen an und stellen diese zur Verfügung – sie sind aber kein wertfreier Ort, der lediglich der Aufbewahrung von Büchern dient.“ Das „lediglich“ kann also jederzeit wegfallen.

Auch das Internet dient in der einheitlich ausgerichteten Gemeinschaft nicht dem unkontrollierten Austausch von Meinungen. Schließlich gehört es wie Buchmessen, Bibliotheken und Bücher überhaupt zur großen gesellschaftlichen Kommunikationssphäre, in der, siehe oben, immer noch eine große Fahrlässigkeit herrscht. Die knapp am Bundesverfassungsgericht vorbeigeschrammte Rechtsprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf schlägt in ihrer neuesten Wortmeldung deshalb eine verpflichtende „Wertekunde“ für alle vor, die sich im Internet „unzulässig“ äußern. In dem oben zitierten Interview der Süddeutschen fordert Jan Böhmermann: „Man muss diese Plattformen zwingend regulieren“, wobei er das ZDF, die Süddeutsche und Bluesky ausnimmt, aber alle anderen meint, insbesondere X, das er für ein „braunes Loch“ hält.
Ende der vergangenen Woche beschloss die EU eine Chatkontrolle, vorerst freiwillig durch die Anbieter von Messengerdiensten, die sich zu diesem Zweck nicht mehr an die sonst überall geltende europäische Datenschutzrichtlinie halten müssen. In drei Jahren will die EU darüber entscheiden, ob sie die freiwillige Überwachung durch Unternehmen in eine Pflicht umwandelt.

An deutschen Hochschulen scheint die Kontrolle von innen allerdings schon so gut zu funktionieren, dass vorerst niemand eine externe Aufsichtsstelle für nötig hält. In der gleichen Woche sagte die Leitung der von den Jesuiten getragenen „Münchner Hochschule für Philosophie“ einen geplanten Vortrag des Philosophen Sebastian Ostritsch zum Thema des Gottesbeweises nach Drohungen aus der Studentenschaft ab. Die Alumni mit dem durchgedrückten Rücken meinten, Ostritsch sei rechtsextrem; als Beleg diente unter anderem der Hinweis, er sei schon einmal in der oben erwähnten „Bibliothek des Konservatismus“ aufgetreten. Sollte die Hochschulleitung ihn trotzdem reden lassen, dann, so kündigte eine ziemlich kleine, aber durchsetzungsfähige Gruppe an, werde die Veranstaltung „nicht ungestört über die Bühne gehen“. In diesem Zusammenhang würden sie, die erwachten Studenten, dann, „Flagge zeigen“.

Die Leitung sagte daraufhin den Vortrag wegen Sicherheitsbedenken ab.

Wir befinden uns fast am Ende des Rundgangs, der gleichzeitig durch die Gegenwart und einmal durch die komplette Ideologiegeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts führt. Die Forderung nach durchgedrückten Rücken, geschlossenen Fronten und In-Dienst-Stellung des Einzelnen für die Gemeinschaft gehörten als Versatzstück zum italienischen Faschismus wie das wieder aufgetragene Schwarzhemd, zum Nationalsozialismus und zu den Ostblockdiktaturen, was natürlich auch für die Gewaltanwendung gegen Feinde gilt, genauso wie der Anspruch, den öffentlichen Kommunikationsraum lückenlos zu beherrschen.
Flaggezeigende Studenten, die bestimmten, wer in der Hochschule reden durfte und wer nicht, traten in den frühen Dreißigern an deutschen Universitäten auf, und dann wieder in der kurzen Spanne zwischen 1945 und 1948, als die neuen Machthaber in Ostdeutschland zwar eigentlich schon alles in der Hand hatten, aber noch fanden, es müsste demokratisch aussehen, weshalb sie Unmutsbekundungen von unten gegen bürgerliche Professoren dem offiziellen Eingriff vorzogen.

Bestimmte Bausteine finden sich eben an ganz verschiedenen Stellen, so wie der Mietendeckel, der am 20. April 1936 in Kraft trat, von der DDR weitergeführt wurde und heute als Forderung bei der Grünen Jugend wieder auftaucht. Auch Formulierungen des Juso-Vorsitzenden Philipp Türmer über Erben („asoziale Schmarotzer“) und Wohlhabende („ich will, dass denen das Lachen im Hals stecken bleibt und die wieder Angst vor uns haben“) lesen sich, wie man heute sagt, nach mehreren Seiten anschlussfähig. Würde heute eine leicht modernisierte Rede Gregor Strassers über raffendes und schaffendes Kapital auf einem Juso-Kongress auf Unmut unter den Delegierten stoßen? Wahrscheinlich nicht. Neunundneunzig von hundert wüssten schon mit dem Namen Gregor Strasser nichts anzufangen, geschweige denn, dass sie seine Texte kennen. Und der eine, der Bescheid weiß, findet garantiert, dass man seine Ideen nicht leichtfertig verwerfen sollte. Außerdem handelte es sich bei dem Mann um ein Opfer Hitlers.

Sobald sich jemand mit den Zutaten des großen Remix befasst, lautet die Anklage, er verharmlose frühere Diktaturen. Die Beschuldigung wirkt albern aus dem Mund von Leuten, die entweder von diesen Diktaturen nichts wissen, oder die sich an den Übernahmen aus deren Fundus nicht stören. Außerdem handelt es sich bei der autoritären Stilmischung der Gegenwart um keine harmlose Angelegenheit. Interessanterweise bringt der Hinweis auf die Ähnlichkeiten, die kein historisch halbwegs Gebildeter übersehen kann, die gleichen Leute zur Weißglut, die nichts dabei finden, wenn jemand im Deutschlandfunk den Bienenstock als Gesellschaftsvorbild lobt, und wenn milizartige Truppen in Gießen für ein Wochenende  Straßen kontrollieren und Berichterstatter angreifen. Wenn der Hinweis, dass bestimmte Formeln und Formen nicht zum ersten Mal auftauchen, als die eigentliche Gefahr gilt, dann legen wachsame Angestellte demnächst vermutlich auch Bibliotheksexemplare von Victor Klemperers „LTI“ Warnzettel oder mindestens eine Einordnung bei.

Lacht da jemand? Das Werk von Hannah Arendt, Schöpferin der Totalitarismustheorie, die sie eben nicht auf den Nationalsozialismus beschränkte, befindet sich schon seit längerem in der Quarantänestation mit der Aufschrift umstritten; der Deutschlandfunk entdeckte bereits 2020 „rassistische Muster“ in ihren Schriften.

Gibt es in dem Remix überhaupt irgendeine frische Zutat? Viele halten den politischen Islam für das neue Gewürz im Kessel und übersehen dabei, dass diese Bewegung ohne den Ideenzustrom aus dem europäischen Totalitarismus höchstwahrscheinlich niemals in dieser Form zustande gekommen wäre. Der Ägypter Hasan al-Banna gründete die Muslimbruderschaft – die älteste und für viele andere vorbildliche radikalislamische Organisation – 1928 als begeisterter Adept von Hitlers „Mein Kampf“. Die Idee des Führerstaats und der totalen Unterwerfung der ganzen Gesellschaft unter ein Bekenntnis sah er als den großen Energieschub, der den Islam in die Moderne befördern sollte. Die Muslimbrüder brachten 1938 von Kairo aus eine arabische Übersetzung von „Mein Kampf“ und der (ursprünglich aus dem zaristischen Russland stammenden) „Protokolle der Weisen von Zion“ in Umlauf. Für den Großmufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, der sich als Hitlers Gast 1943 in Deutschland aufhielt, dort nachweislich mindestens ein Konzentrationslager besuchte und Hitler mit dem Wunsch in den Ohren lag, die Ausrottung der Juden im Nahen Osten zu unterstützen, hegte al-Banna größte Bewunderung. Auch nach dem Krieg, 1946, schrieb er: „Der Mufti ist so viel wert wie eine ganze Nation. Der Mufti ist Palästina, und Palästina ist der Mufti. O Amin! Was bist Du doch für ein großer, unbeugsamer, großartiger Mann! Hitlers und Mussolinis Niederlage hat Dich nicht geschreckt.“

Der politische Islam gehört erstens zur Moderne, und was seine Ausbreitung in Westeuropa betrifft, handelt es sich zum großen Teil um einen Reimport. Das erklärt auch, warum er so reibungsfrei mit der Partei La France insoumise von Jean-Luc Mélenchon, neuerdings den britischen Grünen und den deutschen Postkolonialisten harmonisiert. Es wächst zusammen, was über gemeinsame Wurzeln verfügt. Mélenchons Bewegung dürfte sich in den kommenden Jahren stilprägend für fast alle europäischen Linksaußen-Parteien erweisen.

Wenn es in der Neuabmischung der Zerstörungslehren eine echte Novität gibt, dann die Adaption der postkolonialen Lehre außerhalb des Westens, wie sie Benjamin Zachariah in seinem wirklich bahnbrechenden, noch nicht auf Deutsch erhältlichen Buch „The Postcolonial Volk“ umreißt. Dort liefert sie eine universelle Begründung für vielfältige Vorgänge, von der Gewalt gegen weiße Farmer in Südafrika und Simbabwe bis zu Scam-Unternehmen in Afrika und Asien, die wohlhabende Weiße im Westen (allerdings auch in China) mit betrügerischen Mitteln um ihr Vermögen bringen. Damit, so die Rechtfertigung, würden sie sich nur einen Teil des kolonial geraubten Reichtums zurückholen.
Zachariah beschreibt exemplarisch, wie in einer Debatte am Birkbeck College in London eine Vertreterin des African National Congress (ANC) Fragen nach der extremen Zunahme von Vergewaltigungen in Südafrika mit dem Hinweis abbügelte, Weiße dürften dieses Thema nicht ansprechen, schließlich hätten sie ganz Afrika durch die Kolonialisierung vergewaltigt. Wenn der Staat Uganda homosexuelle Handlungen mit langer Haft bestrafe, so beschreibt es „Postcolonial Volk“, dann berufen sich die Verantwortlichen heute theoriegewappnet auf die lokale („indigene“) Landestradition. Sobald sie die Verfolgung als Widerstand gegen die westliche Kultur deklarieren, entfallen lästige Rückfragen im progressiven Westen.

Bei den Remix-Linken stößt diese praktische Anwendung ihrer Theorie auf keinerlei Widerspruch, offenkundig noch nicht einmal auf größeres Unbehagen. Auf dem Grünen-Parteitag, der am gleichen Wochenende stattfand wie die Neugründung der AfD-Jugend in Gießen (und die Selbstermächtigung der linken Kommandounternehmen dagegen), lobte die grüne Bundestagsabgeordnete Lisa Badum den afrikanischen Staat Uganda ausdrücklich für dessen vorbildlichen Anteil an Solar- und Windenergie. Das gleicht offenbar vieles und eigentlich alles wieder aus, willkürliche Verhaftungen, Unterdrückung regierungskritischer Demonstrationen, Schwule im Gefängnis und den globalen Rang 161 beim jährlichen Pro-Kopf-Einkommen in Höhe von 3900 Dollar.

Wer vor den Ausführungen eines Böhmermann über durchgedrückte Rücken und dem Lob des Deutschlandfunks für das Vorbild Arbeitsbiene nicht zurückzuckt, wer in Marschblocks unter den Linden, Literaturaussonderung in einem Bibliotheksverbund und Übergriffen auf politisch verdächtige Journalisten nichts Alarmierendes sieht, den schreckt vermutlich auch in den nächsten Jahren wenig. Es kommt nur darauf an, dass es unter dem vertrauten Banner stattfindet.

Welchen Zweck verfolgt dieser Text?

Eigentlich nur einen: die Wiedervorlage im Jahr 2030. Dann wird man im Vollbild sehen, was jetzt gerade im Mischkessel entsteht.

 

 

 


Dieser Text erscheint auch auf Tichys Einblick.


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