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Publico-Lesezeit I

Weihnachten und der Jahreswechsel – beides wird 2020 anders als sonst. Vielleicht hatten Sie nicht die Chance, ein passendes Geschenk oder Lektüre für sich selbst zu finden. Dafür gibt es bis weit in den Januar hinein aber Lesezeit wie noch nie. Publico empfiehlt dafür neuen Stoff. Heute: Birk Meinhardt über die Selbstdemontage der Medien, Alexander Kissler über die kindische Gesellschaft – und Matthias Matussek über die Kunst, über Sucht nachzudenken, und dabei seine Abschiedszigarette zu rauchen

Von einem, der auszog

Birk Meinhardt, Schriftsteller und früherer Autor der Süddeutschen, schreibt über seinen Ausstieg aus dem Haltungsbetrieb, und fragt: Woher kommt diese Unversöhnlichkeit in der Gesellschaft?

In diesem Buch, 143 Seiten kurz, gibt es mehrere Stellen, an denen die Geschichte des Journalisten Birk Meinhardt in die eine oder andere Richtung kippen könnte, so wie ein Seiltänzer, der einen Fuß frei schweben lässt. Dann zählt die nächste kleine Bewegung. Den ersten dieser Momente erlebt der Leser von Meinhardts Buch „Wie ich meine Zeitung verlor“ auf Seite 7. Bis dahin erzählt Meinhardt, Jahrgang 1959, wie er als ehemaliger Sportjournalist des DDR-Blatts Junge Welt 1992 bei der Süddeutschen Zeitung ankommt. Die Kollegen begrüßen ihn mit Applaus im Konferenzraum, beäugen ihn, den Exoten, und heißen ihn willkommen. Auf dieser Seite sieben schildert er ein Bewerbungsgespräch bei der FAZ, das er in diesen frühen Neunzigern hatte.

„Ich saß vor einem der Herausgeber, und er fragte mich gleich zu Beginn, ob ich in der Partei gewesen sei. Ja. Aber nur weil sie mussten, oder? Es war eine Brücke, die er mir baute, doch ich antwortete wahrheitsgemäß, ich musste nicht.“

Der Ostler hätte einfach in die Rolle des Opportunisten schlüpfen können, die ihm gewissermaßen hingehalten wurde wie ein Mantel. Es kam ja nicht mehr darauf an. Meinhardt lehnte die Hülle ab, wie man so sagt, ohne Not. „Von jener Sekunde war das Wohlwollen des Herausgebers fort.“

Und das des Rezensenten da.
Die Junge Welt übertraf in der DDR das Parteiorgan Neues Deutschland noch an Haltung, die Sportredaktion bildete eine kleine Enklave, aber auch jeder, der einmal in diesem nicht ganz so ideologisch durchtränkten Einsprengsel arbeitete und sich später als innerer Emigrant beschreiben würde, könnte das nur als Heuchler tun.

Birk Meinhardts „Wie ich meine Zeitung verlor“ gehört zu den heftig diskutierten Büchern dieses Jahres. Es heißt, er habe, obwohl schon etablierter Romanautor, mehrere Anläufe gebraucht, um einen Verlag dafür zu finden. Sein Text läuft von der ersten Seite an auf den Bruch des Autors mit der Süddeutschen zu, erzählt von diesem Bruch selbst und noch ein wenig von der Zeit danach. Aber nirgends macht der Autor den Fehler, die ersten Haarrisse um der Dramatik willen schon in den Anfang hineinzuschreiben. Es ist seine Zeitung, sein Biotop, in dem er nicht nur von den Olympischen Spielen berichten, sondern auch Reportagen schreiben kann über Themen, die er sich außerhalb des Sports sucht.

Zweimal erhält er den Kisch-Preis, außerdem noch andere Preise. Er erlebt eine Freiheit, die ihn sogar hin und wieder erstaunt. Einmal schreibt er über einen Berliner Immobilienkönig. Dem missfiel das Porträt, er schaltete darauf keine Anzeigen mehr in der Süddeutschen. Das kostete 500 000 Mark im Jahr, eine Summe, die das Blatt damals noch verschmerzen konnte. Aber es lag auch am Selbstverständnis dieser Zeit, sich durch eine Anzeigenkündigung nicht beeindrucken zu lassen.

Was, dürfte sich Meinhardt danach gefragt haben, soll mir in diesem Blatt eigentlich passieren?
Sein Buch trägt auch zur Geschichtsschreibung bei, es zeigt Medien, die sich, egal, wo sie sich politisch aufhielten, als Institutionen aus eigenem Recht sahen – damals noch mit beeindruckenden Verkaufszahlen und vollen Anzeigenteilen. Der erste Riss tut sich auf, als Meinhardt 2004 über die Deutsche Bank schreibt, über deren Investment-Stars in London, die meinen, dass eine Bank nicht mehr vom alten konventionellen Kreditgeschäft leben kann, sondern das ganz große Rad der neuartigen Finanzprodukte drehen muss. Den Text verhinderte der Wirtschaftsressortleiter, er ist der erste von Meinhardt, der nicht erscheint (und wie alle ungedruckten Reportagen in dem Buch nachgelesen werden kann).

Der Blick des Reporters ist der eines thematischen Fremdlings, der laienhaft von außen auf Deutschlands größte Bank schaut, dabei aber alle wesentlichen Probleme erkennt, die vier Jahre später zur weltweiten Banken- und Kreditkrise führen. Bis zum nächsten nichtveröffentlichten Text dauert es vier Jahre, und dieses Mal geht es nicht nur um eine gekränkte Ressortleitereitelkeit. Birk Meinhardt schreibt über zwei Fälle, in denen jeweils Leute mit rechtsradikaler Vergangenheit für Taten angeklagt werden – einer auch mit Urteil und Haft – die sie nicht begangen hatten. Beide Male gab es eine entsprechende mediale Stimmung, politische Erwartungen, also Druck, dem Staatsanwälte und Richter eigentlich standhalten müssten, aber nicht standgehalten hatten. Gleich in seiner Einleitung nennt Meinhardt damals die Zahl rechtsextremer Straftaten, er will also an der Gefährlichkeit von Extremisten nichts retuschieren. Er fragt nur: könnte es sein, dass maßgebliche Figuren – Politiker, Journalisten, Richter – in dem so genannten Kampf gegen Rechts die notwendige Distanz verlieren? Natürlich weiß er auch, dass Justizirrtümer auch in den gerechtesten Land vorkommen. „Aber wenn man sich durch die Akten wühlt und mit den Beteiligten redet, wird klar, dass Irrtum hier nicht das richtige Wort ist“, schreibt er. „Wie lautet es dann, jenes Wort. Schwer zu sagen. Beflissenheit. Beeinflussbarkeit. Zweifelsverdrängung.“

Bei dem zweiten Vorgang in seinem Text handelt es sich um den Fall Ermyas Mulugeta, der im April 2006 an einer Straßenbahnhaltestelle in Potsdam niedergeschlagen wurde. Die Fußball-WM steht unmittelbar bevor, Angela Merkel äußerte sich nicht nur zu dem Fall, sie setzte auch, gewissermaßen als oberste Ermittlerin, den Rahmen:
„Mir liegt daran, dass dieser Fall schnell aufgeklärt wird und daß wir deutlich machen, daß wir Fremdenfeindlichkeit, Gewalt, rechtsradikale Gewalt aufs Äußerste verurteilen.“
Die schnelle Klärung besteht 2006 darin, einen Mann mit rechtsradikaler Vergangenheit zu verhaften und mit einem spektakulären Aufwand zur Bundesanwaltschaft nach Karlsruhe zu fliegen. Später stellte sich heraus: Der Mann hatte mit der Tat nichts zu tun, er verfügte über ein Alibi. Es gab auch keinen rechtsradikalen Hintergrund. Bei der nächtlichen Auseinandersetzung zwischen dem stark alkoholisierten Ermyas Mulugeta und einem anderen nicht mehr nüchternen Mann handelte es sich um einen banalen Streit, bei dem Mulugeta stürzte und mit dem Hinterkopf aufschlug.

Meinhardt redet in seiner Recherche auch mit Uwe-Karsten Heye, dem ehemaligen Regierungssprecher Gerhard Schröders, Vorsitzender des Vereins „Gesicht zeigen“, der die vermeintlich rechtsradikale Tat von Potsdam dazu benutzt, von No-Go-Zonen im Osten zu sprechen. Der Reporter zitiert Heye am Schluss seines Textes: „Hoffentlich kriegt ihre Story keinen falschen Zungenschlag.“

Genau das werfen die Kollegen Meinhardt vor. An seiner Recherche, erklärt ihm ein Kollege, sei zwar nichts falsch. Aber er bestärke eben die Falschen. Genau die Begründung hatte er noch aus seiner Zeit bei der Jungen Welt im Ohr, wo es über seine Geschichten mehr als einmal hieß, das werde man nicht drucken, denn das würde nur dem Gegner nützen. An dieser Stelle vollzieht sich der Bruch, den Meinhardt noch heilen könnte, aber nicht mehr heilen will.
Es folgen Texte, die erscheinen, dann wieder ein Beitrag, der es nicht ins Blatt schafft. Schließlich kündigt er, schreibt weiter Literatur, liest ab und zu noch sein altes Blatt, und nimmt jetzt mit geschärften Blick von außen wahr, wie sich die Verwandlung der Medien, die ihn nicht mehr direkt betreffen, spätestens ab 2015 schneller und immer stärker in eine Richtung verlaufen. „Das ist ja ein Dauerzustand geworden: einer Haltung Ausdruck verleihen und nicht mehr der Wirklichkeit.“ Wobei: Haltung, das klingt ihm zu sehr nach Eigenständigkeit: Sie richten sich, schreibt er, aus wie „Späne nach einem Magneten“, aber aus freien Stücken, sogar mit Begeisterung.

Ein großer Gewinn sind die in der Zeitung nicht und in dem Buch nachträglich abgedruckten Reportagen, kitschfreie Texte und schon deshalb durchweg besser als alle preisgekrönten Beiträge von Claas Relotius. Wie sähen Zeitungen heute aus, wenn sie heute noch solche Texte wie die von Meinhardt bringen würden? Wie wäre das Debattenklima im Land?
An einer Stelle fragt Meinhardt, ob die Haltungszeiger, zu deren Sorgenthemen die Spaltung der Gesellschaft gehört, sich irgendwann einmal nach ihrem Anteil an dieser Spaltung fragen. Was Meinhardt beschreibt, geht weit über die Süddeutsche hinaus, auch weit über Deutschland.

In diesem Jahr 2020, einem Jahr der weiteren Teilung und Schärfung, verließ die Redakteurin Bari Weiss die New York Times, weil es zwischen ihr und einer neuen Gruppe von Journalisten zu einem ganz ähnlichen Bruch gekommen war. „Ein neuer Konsens zeigt sich in der Presse und vielleicht ganz besonders in diesem Blatt“, schrieb Weiss in ihrer Abschiedserklärung, „dass die Wahrheit nicht mehr ein Prozess der kollektiven Entdeckung ist, sondern eine Orthodoxie, in die einige wenige Erleuchtete schon eingeweiht sind, die es als Aufgabe betrachten, alle anderen darüber zu informieren.“

Interessant ist, wie mehrere Medien Meinhardts Buch aufnahmen. Der Topos des Ostdeutschen, der im Westen nicht angekommen sei, taucht in Rezensionen öfters auf. Eine Redakteurin der Berliner Zeitung, die so ziemlich alles verkörpert, wovon Meinhardt und Weiss sich abgestoßen fühlen, schreibt von der „Heimatlosigkeit der Ostdeutschen in den Medien“ – es ist also nicht das Problem der Medien, sondern das der Ostdeutschen. Zweitens kommt in ihrer Rezension auch das Sing Along aller wohlmeinenden Medienschaffenden vor, da eine einzelne identitätspolitische Einordnung noch nicht genügt: „Alles dreht sich um die Kränkung eines älteren weißen Mannes.“ Der Punkt, dass diejenigen, die Meinhardt Texte in München ablehnen, zur gleichen Kategorie gehören, entgeht ihr offenbar.

Es gibt noch einen zweiten Satz in der Berliner Zeitung über Meinhardt, der es verdient, für später ins Archiv zu kommen:
„Er ist ein Einzelkämpfer, ringt um jedes Wort. Das hält heute nur den Betrieb auf.“
Tatsächlich könnte seine Geschichte mit seiner ostdeutschen Herkunft und seiner Vergangenheit bei der politisch strammen Zeitung bis 1990 zu tun haben. Es ist ja nicht so, dass Meinhardt nicht verstanden hätte, was von ihm erwartet wurde. Genau so, wie er damals sehr genau begriffen hatte, welche Antwort der FAZ-Herausgeber ihm schon zurechtlegte, damit er nur noch hätte hineinschlüpfen müssen. Er wollte diese Anpassungsleistung eben nicht mehr liefern, die er an sich selbst aus der Zeit vor 1990 kannte. Er wollte nicht, um sein Wort zu benutzen, beflissen sein. Und es wirkt auch nicht so, dass er dem Medienbetrieb fremd geblieben wäre. Sondern, dass die Medien zusammen mit Politikern und Verbänden sich mehr und mehr von ihren alten bundesrepublikanischen Standards lösten, also sich eher von ihm entfremdeten als umgekehrt. Und ihm höchstens deshalb wieder vertraut vorkamen, weil er diese kollektiven Selbstausrichtungstechniken schon kannte.

Vermutlich gibt es immer noch etliche Redakteure wie Meinhardt in verschiedenen Medien, die sich mit ganz ähnlichen Zweifeln herumschlagen, sich dann aber in Zweifelsunterdrückung üben, manche Formulierungen und bestimmte Themen von vorn herein meiden. Sie bestimmen zusammen mit den Haltungsstolzen das Klima.

Birk Meinhardts Buch ist über viele dutzend Seiten atemlos geschrieben. Über lange Strecken fühlt sich der Leser so, als würde ihn ein Gesprächspartner immer wieder an der Schulter rütteln und sagen: ‘Das musst du dir anhören.’ Aber genau darin liegt die Qualität des schmalen Buchs: Er versucht gar nicht, seinen Auszug aus dem Mediengeschäft kühl und aus der Entfernung zu schreiben. Denn beides hätte er simulieren müssen.
„Wann hat das angefangen?“, fragt sich an einer Stelle ein guter Freund, mit dem er über seinen Blick auf die Medien spricht. Das Buch hilft, eine Antwort darauf zu finden. In zehn Jahren könnte es noch wichtiger sein als heute.
Den Betrieb aufhalten: Das wäre das Beste, was jemand innerhalb des konventionellen Medienapparats noch tun könnte. Es gibt dort allerdings nur wenige, die es für eine Aufgabe halten, die Selbstzerstörung der eigenen Institution wenigstens zu bremsen.

 

Birk Meinhardt „Wie ich meine Zeitung verlor. Ein Jahrebuch
Das Neue Berlin, 143 Seiten, gebundenes Buch 15 Euro, E-Book 13 Euro

 


 

Wenn Greta mit dem Wolf tanzt

Alexander Kissler beschreibt die infantile Gesellschaft. Und fragt: Wie kommen wir da wieder heraus?

Eine Grünenpolitikerin, die kalendarisch schon 30 ist, aber in die Kamera grimassiert und islamische Terroranschläge in Frankreich mit hey kommentiert wie ein Teenager. Vierzigjährige mit geschlitzten Jeans und Piercings. Politiker, die sich für die wertvolle Inspiration bei Schülern bedanken, deren Beitrag zur Debatte darin besteht, „hey, hey, wer nicht hüpft, der ist für Kohle“ zu skandieren. Eine Gesellschaft, in dem Kinder als Verkörperung des Echten und Wahren gelten und Erwachsene sich erhöhen können, indem sie kindliche Muster imitieren – diesen Zustand skizziert Alexander Kissler, Sachbuchautor und Redakteur der NZZ, in seinem Buch „Die infantile Gesellschaft“. Er belässt es nicht bei der Skizze, sondern fragt: Woher kommt diese Regression? Für welches Gesellschaftsbild steht die „unverschuldete Unreife“ (Kissler)? Und: wo ist der Ausgang?

Als Ursprung der nur im Westen verbreiteten Kindheitsüberhöhung macht Kissler das Erziehungsbuch „Émile“ von Jean-Jacques Rousseau aus. Darin empfiehlt der Philosoph, Kinder möglichst in einem idealen ’Naturzustand’ aufwachsen zu lassen. Bekanntlich konzentrierte sich Rousseau ganz auf sein fiktives Modell Émile; seine eigenen Kinder ließ er ins Heim stecken, damit sie ihn nicht beim Denken und Schreiben störten. Trotzdem kommt er in dem Buch besser weg als die späteren „Vulgärrousseauisten“. Denn die, so Kissler, erklären anders als der Mann aus Genf „das Kind zum Orakel, aus dem höhere Mächte sprechen“. So entstehe ein „argumentatives Kindchenschema“. Was weder den Kindern guttut noch dem Rest.

Dieses tatsächliche beziehungsweise vermeintliche Kindchenschema des Diskurses führt er am Beispiel der zur neuzeitlichen Prophetin erhobenen Klimabewegungs-Figur Greta Thunberg vor, bei der sich das kindertypische Denken in Gut-Böse- und Alles-oder-nichts-Kontrasten noch durch ihr Aspergersyndrom steigert („ich habe Asperger-Syndrom, und für mich ist alles schwarz oder weiß“). Das Ertragen von Ambivalenzen, den Perspektivwechsel erlaubt dieser Zustand nicht. Beides gehört üblicherweise zum Kern einer erwachsenen Person. Wer selbst Endzeitphantasien bemüht, und sei es nur aus taktischen Gründen, um bestimmte politische Ziele zu legitimieren, der findet in der jungen Schwedin eine ideale Projektionsfläche, die auf Politiker und Verbandsfunktionäre zurückstrahlt. „Vereinfacht ausgedrückt: Wir loben die, von der wir gelobt werden möchten. Ein Lob aus Kindermund wäre das Höchste“, meint Kissler.

Allerdings: Ein mit Kinderprophetenwucht verstärktes Donnerwort ist in der praktischen Politik unbrauchbar. Denn dort – wie im Leben überhaupt – meldet sich das Realitätsprinzip, dort kommen die Töne zwischen Schwarz und Weiß ins Spiel, dort summieren sich Opportunitätskosten für jedes Handeln. Eine zum Kindchenschema passende Mathematik und eine Ökonomie ist nicht zu haben. Politiker, die meinen, Greta Thunberg für sich nutzen zu können, werden also das Endzeitprophetische nie einlösen können: „Hier rasen zwei gleichermaßen schwer beladene Moralsattelschlepper aufeinander zu – in der Illusion, sich in die gleiche Richtung zu bewegen. Greta Thunbergs Gebot lässt sich nicht in Politik übersetzen, zumindest nicht in demokratische Politik.“

Woher kommt überhaupt die Überhöhung des Kindes zum Propheten, zum Leitbild, die Umkehrung, die in der Forderung liegt, Erwachsene – also die Erfahrenen und in Ambivalenz geübten – sollten von Kindern lernen? „Mit aufmerksamkeitsökonomischen Knappheitspreisen prämiert eine Gesellschaft aus Kleinfamilien ihre wenigen Kinder“, urteilt Kissler.

Wer im Kind den idealen Naturzustand sieht, an dem sich alle orientieren sollen, der entdeckt auch in der Natur nichts Schädliches oder Zweischneidiges, sondern nur schlechthin Gutes. Kissler präsentiert eine Fülle von Beispielen für die Verkitschung der Natur, die mit diesem Goldschnitt nur zu haben ist, indem man das Natürliche leugnet. Am schönsten zeigt er das an der Wolfsromantik von Städtern: Da wird der Isegrim das vorbildliche Tier, das sogar „vergeben“ kann, und die Distanz des Menschen zum Wolf zur Wolfsphobie, wie uns unter anderem Robert Habeck in seinen Kinderbüchern belehrt. Seit Gerhard Henschels „Das Blöken der Lämmer. Die Linke und der Kitsch“ von 1998 hat niemand den Kind- und Naturverklärungskult so gründlich nachgezeichnet. Der Literatur- und Medienwissenschaftler schreibt nie nur aus der Gegenwart heraus, seine Gegenstände bettet er historisch ein – was sein Buch von vielen tagespolitischen Traktaten auf dem Markt unterscheidet. Er fragt, betrachtet, oft kann er sich die Ironie als Distanzierungsmittel nicht verkneifen. Aber er klagt nicht an und belehrt nicht. Auch diese Qualität unterscheidet „Die infantile Gesellschaft“ von der üblichen Manifest- und Appell-Literatur.

Wie entgehen die hoffentlich halbwegs Erwachsenen der zunächst einmal kuscheligen Regression ins Gute und Wahre? Vom „Glück der Souveränität“ schreibt Kissler, das darin liegt, nicht Kind und Wolf zu Propheten zu ernennen, sondern sich seines (notwendigerweise unvollkommenen) Verstandes zu bedienen. Ein reifer Mensch, lautet sein Fazit, „vertauscht nicht den Ernst mit dem Spiel, und rettet somit beide.“
Frei nach dem bayerischen Philosophen Karl Valentin: Souveränität ist schön. Macht aber viel Arbeit.

 

Alexander Kissler: „Die infantile Gesellschaft. Wege aus der selbstverschuldeten Unreife
Harper Collins, 254 Seiten, gebundenes Buch 20,00 Euro, Kindle 16,99 Euro

 


 

Er will mehr

Matthias Matussek vollführt einen dialektischen Salto: Er schreibt ein Buch über Sucht, das den Leser dazu verleitet, dass Rauchen aufzugeben.

Matthias Matussek ist süchtig nach vielen Dingen, aber nach einem Stoff noch mehr als nach allen möglichen Pulvern: nach Lob. Lob ist das Heroin des Künstlers. Und das verdient er für „Sucht und Ordnung“ reichlich. In seinem neuesten Buch tritt er, Autor, Reisender, langjähriger Spiegel-Schreiber, als norddeutscher Brandner Kaspar auf, den der Sensenmann alias Boandelkramer besucht und ihm bedeutet: Jetzt ist langsam Schluss, mein Lieber. In seinem Fall kam der Kramer mit der finalen Drohung in Gestalt eines Herzinfarktes („ein Elefantentritt aus heiterem Himmel“), der den Raucher Matussek ein letztes Mal verwarnt. Und wie Brandner Kaspar schloss Matussek einen Handel ab: Er, der sich sicher war, nie von den Zigaretten lassen zu können, verordnete sich den kalten Entzug. Gleichzeitig sagte er dem Kramer, der ihn eigentlich schon mitnehmen möchte: Setz dich erst mal, ich erzähle dir von meiner Begegnung mit noch einem ganz anderen Süchtigen, nämlich William Burroughs, ich erzähle dir von Drogenslums in Sao Paulo, ich erzähle dir, warum die Sucht in mir steckt. Und wie ich – ich, ausgerechnet ich – es gegen jede Wahrscheinlichkeit schaffe, mit dem Rauchen aufzuhören.
Und wie der originale Brandner Kaspar schwatzt MM ihm mit seinem Talent für gute Geschichten viele zusätzliche Lebensjahre ab. So ungefähr könnte das Buch über (seine) Sucht und seine Rettung entstanden sein.

Gleich am Anfang zitiert Matussek einen kleinen Bruder im Geist, nämlich Charles Dickens’ Oliver Twist, der im Waisenhaus mit seinem Satz einen Tumult auslöst: Please Sir, I want some more.“ Nachschlag also, obwohl es sich bei dem Essen nur um Matschpampe handelt. Suchttypen wie er, erklärt der Autor, seien wie Oliver Twist Menschen, denen die eine Portion nie genügt, die immer mehr wollen, deren Hunger sich nie stillen lässt. Nach diesem Prinzip funktioniert die Zigarette, und zwar mehr als jede andere Droge:

„Als ich in der Herz-Reha hörte, dass die Nikotinabhängigkeit noch schwerer zu bekämpfen sei als die von Heroin, konnte ich durchaus mitreden. Sie ist die purste aller Süchte, das Zen der Sucht. Warum? Sie produziert nichts anderes als – Sucht. Sie schenkt keine angenehmen Gefühle wie Heroin, keine Über-Wachheit oder gesteigerten sexuellen Appetit wie Koks oder kreativen Quatsch wie Marihuana, sondern nur das Wonnegefühl, das sich einstellt, wenn der Abhängige seinen Entzug kurzfristig befriedigt.“

Die Rettung vor der Zigarettensucht ist für ihn also der Achttausender der Drogenüberwindung. Und gleichzeitig sein bestes Argument für dieses Buch: Wenn jemand wie er es schafft, auf Tabak zu verzichten – dann können sich auch alle anderen Süchtigen noch schnell auf die sichere Seite bringen. Wenn auch nicht so amüsant und lehrreich wie der Autor. Denn er nimmt seine Leser nicht nur mit bei seinem Aufstieg zum neuen rauchfreien Menschen – jeder durchgehaltene Monat ein Sieg – ; er wandert auch über das weite Themenfeld der Sucht, und fragt sich, warum sie so fest zur menschlichen Matrix gehört: leicht zugänglich und kaum entrinnbar. Seine Qualität ist die eines Erzählers. Darin besteht Matthias Matusseks eigentliches Metier. Wir sind dabei, wenn er William Burroughs trifft, wenn er in Brasilien erlebt, was Drogenkrieg bedeutet. Der Leser begleitet den Autor in eine amerikanische Knastzelle, in der er wegen eines Missgeschicks mit einer eigentlich harmlosen illegalen Substanz landet.

Was die illegalen Substanzen betrifft: Er plädiert in „Sucht und Ordnung“ für eine kontrollierte Freigabe von Rauschmitteln – wie sie Portugal beispielsweise seit dem Jahr 2000 mit entkriminalisierten Mengen für den Eigenverbrauch praktiziert, sogar ziemlich erfolgreich und ohne die befürchteten Verwerfungen. Seine Idee passt gut in eine Zeit, in der LSD und MDMA beispielsweise in der Schweiz wieder in die Medizin zur Therapie von psychischen Traumata und Depression zurückkehren. Eine ähnliche Bewegung zur Entkriminalisierung von MDMA gibt es auch in den USA – wo auch Cannabis in vielen Bundesstaaten zuerst über den Weg der medizinischen Anwendung in die allgemeine Legalität fand. Vor kurzem startete das Unternehmen Compass Pathways des deutschen Investors Christian Angermayer erfolgreich an der Börse: Die Firma entwickelt ein Antidepressivum aus Psilocybin, dem Stoff, der in so genannten Zauberpilzen steckt. Noch gilt der Stoff als illegal (obwohl nicht suchterzeugend), aber auch hier deutet sich eine Änderung an.

Legalisierung und Suchtüberwindung gehören für Matussek zusammen: Bei ihm steht der Wille zur Unabhängigkeit im Mittelpunkt. Und der ist bei ihm auch sehr ausgeprägt. Außerdem erlebte er viele, viele Oliver-Twist-Momente. Das macht die Abkehr nach dem Elefantentritt leichter. „Jede einzelne Zigarette ist eine Abschiedszigarette. Jede schmeckt geil“, schreibt er über seine letzten Stäbchen in der Klinik. Aufgeben können, das verdankt er dem Alter, das ihm zwar so wenig schmeckt wie jedem anderen, das er aber noch eine Weile genießen möchte:

„Das Älterwerden ist selbstverständlich Grund zur Empörung, denn es ist ‚alternativlos’, auch wenn du dich dagegen anstemmst mit Sport und Heilkräften in Kapseln und Pillen, und manchmal schreist du in dich hinein vor Verlangen nach einer Zigarette, ja, auch das passiert noch ab und zu, aber es vergeht wie eine Wolke am Himmel, die weiterzieht.“

Die Oliver-Twist-Forderung, das ist die dialektische Pointe, bezieht sich jetzt nicht mehr auf den nächsten Genuss – sondern etwas mehr Zeit. Die Bitte um mehr Jahre. Das Buch – Unterhaltung plus praktischer Nutzen – kostet etwa so viel wie zwei Schachteln Zigaretten.

Für das Jahresende beziehungsweise den Anfang des neuen bietet es sich als ideale Lektüre für alle an, die das Abenteuer des Entzugs versuchen wollen.

 

Matthias Matussek: „Sucht und Ordnung. Wie ich zum Nichtraucher wurde – und andere irre Geschichten
Neopubli, 160 Seiten, Paperback 15 Euro

 

 

 


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6 Kommentare
  • Klaus
    26. Dezember, 2020

    Ich habe nach 19 Jahren sehr heftigen Zigarettenrauchens, – vom morgendlichen Aufwachen bis abends noch eine im Bett – am 6. November 1989 von einem auf den anderen Tag einfach aufgehört.
    Mir wurde bewusst: das Zeug ist schädlich, die Wohnung stinkt, es kostet viel Geld, also: aufhören. Wollte doch mal sehen, ob ICH Herr über meinen Körper und Geist bin.
    Habe bis heute 31 Jahre später, keine Zigarette mehr angerührt.
    Komm ich jetzt (auch) ins Färnsehn?

  • pantau
    28. Dezember, 2020

    Meine erste Zigarette fabrizierte ich mir mit 12 im Rahmen einer Mutprobe nebst Regenwurmkauen aus vertrockneten Brennesselstielen. Den Rest erledigte mein Vater mit seiner ausgeprägten Zigarilloleidenschaft, der zum abendlichen Derrik das komplette Haus unter Beiznebel setzte. Sowas immunisiert.

    Ich glaube die Infantilisierung ist eine notwendige Bedingung jeden Berufsernstes. Wie kann man besser der Berufszeit huldigen als seine berufsfreie Zeit mit nonsense auszufüllen. So sehr ich die Frankfurter Schule für 1 Irrweg halte, so hat Adorno doch in den minima moralia zu diesem Themenkomplex viel Kluges geschrieben. Schon das Hobby ist Infantilität als Kategorie. Sowas sollte man nicht übersehn. Ich würde meinen, da ist keiner Schuld dran, das liegt einfach im System. Aber nur Linke sind so dumm zu glauben, man könne die Systeme wechseln wie seine Hosen.

    • Grand Nix
      28. Dezember, 2020

      Bezugnehmend auf Adornos Minima Moralia, bleibt vor allem dieser berühmte Satz hängen:
      „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

      In der ersten, ursprünglichen Textfassung lautete der Satz: „Es läßt sich privat nicht mehr richtig leben.“ Siehe Martin Mittelmeier: Es gibt kein richtiges Sich-Ausstrecken in der falschen Badewanne. Zuerst erschienen in: Recherche 4/2009

      „Derart falsch ist ihm (Adorno) zufolge das Leben, dass man die Falschheit gar nicht mehr begründen muss. (Tatsächlich?) Die mächtige rhetorische Verknappung wird erkauft durch das selbstverständliche (!?) Voraussetzen von Falschheit, das dem Satz zu penetranter Anwendbarkeit verhilft.“ (Was ist richtig, was falsch? Ein weites, sehr weites Feld, nicht nur in philosophischen Sphären)

      Ich halte nicht viel von diesem Satz, gleichwohl ich sehr gut nachvollziehen kann, in welchem Kontext (Nationalsozialismus, Verfolgung, Migration) er von Adorno geschrieben wurde.

      „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

      „Auf den ersten Blick scheint der Satz mit seiner klaren Logik fälschungssicher.“ Aber beim zweiten Blick steigen Zweifel auf. Wenn man das Leben (der Anderen), das eigene Leben (und Denken, oder das, was was man dafür hält) genauer und mit Abstand betrachtet, auch über die Jahrtausende, ist alles entweder folge-richtig oder alles ein windschiefes Gebilde (ein falsches Leben). Man könnte also durchaus diese berühmt berüchtigte Sentenz von Adorno mit einer minimalen Streichung auch so verstehen und lieben lernen. Das interessante Ergebnis von Grand Nix wäre:

      „Es gibt ein richtiges Leben im falschen.“

  • Materonow
    28. Dezember, 2020

    Danke für die guten Literaturtipps!
    Habe alle vorgemerkt.

    Was Tabakkonsum anget, kann ich wenig beitragen; Zigarette war nicht mein Ding, Pfeife rauchen der Liebe wegen, dabei stets ein pelziges Gefühl auf der Zunge.
    Hab dann die Pfeife Pfeife sein lassen und war nur noch Passivraucher meiner zigarettensüchtigen Frau in über 50 Jahren.

  • Herbert Manninger
    31. Dezember, 2020

    Zum Buch über die Infantilisierung der Gesellschft empfehle ich als passenden Soundtrack Grönemayers ,,Kinder an die Macht”.

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