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Der Solitär

Zum Tod von Karl Heinz Bohrer

Als Karl Heinz Bohrer 2017 zur Leipziger Buchmesse aus seinem gerade erschienen Buch „Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie“ vorlas, eine Art Lebensroman, fiel vor allem die Stimme des damals schon 85-Jährigen auf. Sie klang erstaunlich jung, trug mühelos bis in die hinteren Reihen, und sie passte in ihrer Ruhe perfekt zu seinem Text.

In „Jetzt“ schrieb er ein gutes Stück der intellektuellen bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte, er erzählte von sich, immer mit der Distanz und Abgeklärtheit, auch mit dem lässigen Witz eines Beobachters, der fast 40 Jahre nicht in Deutschland wohnte. „Sowieso sieht der Zuschauer das meiste vom Spiel“, heißt es bei James Joyce. Abstand schärft den Blick.

Bohrer, 1932 in Köln geboren, war Literaturwissenschaftler, Kritiker, Autor, und in allem ein Solitär, der zu keiner Gruppe gehörte, keiner Strömung, zu keinem politischen Block. Am ehesten ähnelt er noch anderen Solitären wie Georges-Arthur Goldschmidt oder Lytton Strachey.

Seine Laufbahn im Feuilleton einer großen Zeitung begann er 1962 bei der Welt, die er nach einigen Jahren wieder verließ, weil sie ihm zu konservativ vorkam. Also wechselte er 1968 zur damals liberaleren FAZ; dort übernahm er den Posten des Literaturchefs. Als er dort 1974 von Marcel Reich-Ranicki abgelöst wurde – ein Einschnitt, den er nie ganz verwunden hatte – ging er nach kurzer Pause für das Blatt als Korrespondent nach Großbritannien. Für ihn war es nicht nur eine Station. In England fühlte er sich alles in allem heimischer als in Deutschland. Am 4. August 2021 starb er in London.

Wahrscheinlich passte er tatsächlich besser auf die Insel mit seiner Art, sich für Milieus zu interessieren, ohne je darin einzutauchen. In einem Gespräch mit Sven Michaelsen für das SZ-Magazin erzählte Bohrer, wie er ab 1968 die Sehnsucht nach einer linken Gesellschaftstransformation wahrnahm, ein Eiferertum, das ihm immer fremd blieb: „Es gab damals keinen angesehenen Kulturjournalisten in der Stadt, der nicht an die Weltrevolution glaubte. In meinem Ressort gab es zwei sehr begabte Redakteure, die überzeugt waren, wir stünden kurz davor, einen neuen Staat zu gründen. Daran glaubte ich als Nicht-Utopiker nun überhaupt nicht, aber mit Mirabeau gesagt: So muss man gelebt haben, wenn man wissen will, was Leben ist.“

In „Jetzt“ schilderte er eine Szene aus dieser Epoche, so trocken, dass manchem Leser möglicherweise die Komik entgeht, wie bei einem festlichen Silvesterabend mit Jürgen Habermas, dessen Frau und anderen Akademikern als ein Habermas-Assistent in Pullover und Jeans auftauchte, der die anderen Gäste wegen deren förmlichen Kleidung als Pinguine und überhaupt als Büttel des Systems beschimpfte, bis ihm ein Rechtsreferendar mit seinen Mitteln antwortete, nämlich einem Faustschlag auf das Assistentenkinn. Bohrer, ganz Beobachter, kommentierte den Auftritt des „Propheten der neuen Epoche“ mit dem zeitlosen Satz: „Sobald ein Mittel für einen Zweck hässlich wird, hilft auch der schönste Zweck nichts mehr. Und wenn der Zweck ebenfalls unattraktiv ist, dann wird alles abstoßend.“

Der Beobachter mit dem nüchternen, aber nicht kalten Blick gehörte in dieser Zeit auch zum Bekanntenkreis von Ulrike Meinhof, die mit ihm diskutierte, vermutlich gerade deshalb, weil sie merkte, wie wenig er mit ihrer Weltsicht anfangen konnte. Die Zeitschrift konkret veröffentlichte einen Artikel unter der Zeile „Ein kluger Kopf steckt immer dahinter“, in dem der Autor Bohrer als inspirierenden Kopf der Leute um Meinhof und Andreas Baader beschrieb, was damals ungefähr die Qualität hatte, als würde heute einem FAZ-Redakteur eine führende Rolle in ultrarechten Kreisen angedichtet. Damals erledigte Herausgeber Erich Welter die Affäre allerdings anders, als es vermutlich heute die meisten Qualitätschefredakteure bei einer Beschuldigung mit umgekehrtem Vorzeichen tun würde. Welter fragte Bohrer, so schilderte es Bohrer, vor versammelter Runde: „Was ist da dran?“ Worauf Bohrer sagte: „Nichts.“ Und Welter: „Das war’s denn, meine Herren! Wir können wieder auseinandergehen.“

Schon Bohrers scharfer Blick auf das Persönliche verhinderte, dass es ihn damals zu den orthodoxen Linken zog. „Ich habe den sardonischen Verdacht“, meinte er Jahrzehnte später, „dass nicht wenige dieser Leute 35 Jahre vorher Nazis geworden wären.“

Ein Lebensthema zieht sich bei Bohrer durch viele Texte und Interviews: die tiefe Abneigung gegen die in der Bundesrepublik eingeprägte Biederkeit, den Mangel an Großzügigkeit, die er vor allem als Abwesenheit von Stil wahrnahm. Und auch als Abwehr von Geschichte. Sein Text in der FAZ über Großbritannien, das 1982 in seinen letzten Solo-Krieg zog, gegen Argentinien und um die Falklands, dieser Kommentar wurde in Deutschland weithin als Skandal wahrgenommen. Denn er verteidigte nicht nur die Selbstverständlichkeit, mit der ein altes Empire seine Inseln im Südatlantik behalten wollte, er nutzte die Zeilen gleich noch zu einer etwas ätzenden Beschreibung der alten Bundesrepublik, „das harmlose Bild föderativer, fettprangender Provinzen zwischen Karneval und Weinernten“. So schrieb jemand, der sich eigentlich nie besonders darum kümmerte, was andere von ihm dachten. Und andererseits jemand, der sich mit dem Mangel an Stil nie abfinden konnte. „Kein Volk kann außerhalb der Schönheit leben“, dieser Satz bildete bei ihm so etwas wie ein Lebensmotto.

In der Gegenwart wäre jemand wie Bohrer als Chefredakteur oder Ressortleiter eines großen Blattes kaum noch vorstellbar. Dass sich Deutschland im Vergleich zu den gemütlichen Bonner Jahren weder in Stilfragen noch sonst zum Besseren verändert hatte, entging ihm natürlich nicht. Angela Merkel bescheinigte er 2012 – es war die Zeit der Griechenland-Krise – sie habe „nicht das geringste Gefühl für kulturelle und psychologische Differenzen in Europa. Ihre Empörung über das frivole Verhalten der Südländer zeigt, dass sie in ihrem kleinbürgerlich-protestantischen Katechismus kein Verständnis für romanische Kulturen hat. Das ist ein Verfall der Kriterien und Distinktionsfähigkeiten. Die Sprache unserer Kanzlerin ist extrem banal und wird von einer Drögigkeit der schieren Faktizität beherrscht, die nur sagen kann: Die Griechen stehlen! Dass die Griechen einen Anspruch darauf haben, eine andere Kultur zu leben, käme ihr nie in den Sinn.“

Der heute üblichen Forderung, den Ton und das Urteil gefälligst herunterzudimmen, stand Bohrer verständnislos gegenüber.

Es gibt immer nur wenige, die kein Bedürfnis haben, zu irgendeinem Kollektiv zu gehören.
Er gehörte zu diesen Einzelexemplaren.

 


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7 Kommentare
  • Lichtenberg
    6. August, 2021

    Traurig. Besonders berührend finde ich “Jetzt” –, und jetzt ist diesem seltsamen Land eines seiner letzten Lichter erloschen. Was kommt jetzt?
    Des Schadbaers Jetzt. Desaster.

  • Thomas
    7. August, 2021

    Was alles so vorkommt

    • *Welter fragte Bohrer, so schilderte es Bohrer, vor versammelter Runde: „Was ist da dran?“ Worauf Bohrer sagte: „Nichts.“ Und Welter: „Das war’s denn, meine Herren! Wir können wieder auseinandergehen.“*

    An dem Beispiel kann man sehr gut sehen, daß es in Deutschland einmal Zeiten gab, in denen ein „Männerwort vor Königsthronen“ oder „Wahrheit gegen Freund und Feind“ (Schiller, „An die Freude“) noch etwas galt – und das zu Recht.

    *Es gibt immer nur wenige, die kein Bedürfnis haben, zu irgendeinem Kollektiv zu gehören.
    Er gehörte zu diesen Einzelexemplaren.*

    Ja. Bohrer war ein guter Mann.

    *Dass sich Deutschland im Vergleich zu den gemütlichen Bonner Jahren weder in Stilfragen noch sonst zum Besseren verändert hatte, entging ihm natürlich nicht.*

    Ja. Berlin hätte nie deutsche Hauptstadt werden dürfen. Ich halte das heute für einen Riesenfehler. Jetzt hat Deutschland den Salat. Aber eine Glaskugel hatten die entscheidenden Leute 1991 natürlich nicht,

    im Gegensatz zu den heutigen „Klima-Räten“. 🙂

    • *Dass die Griechen einen Anspruch darauf haben, eine andere Kultur zu leben, käme ihr [Anm.: Fr. Dr. Merkel] nie in den Sinn.*

    Das stimmt. Nach meinem Dafürhalten haben sogar die Ungarn einen Anspruch auf ihre (andere) Kultur.
    https://ungarnheute.hu/news/orban-im-fox-news-interview-liberale-im-westen-fuerchten-eine-erfolgreiche-konservative-alternative-28515/
    Und natürlich auch die Polen. Wir natürlich … nicht.

    Frieden, Freiheit und Wohlstand ohne Angst. Wer will das nicht. Alles Gute beginnt mit dem angstfreien Wort und der angstfreien Antwort. Dazu braucht es mutige und kluge Einzelexemplare.

    Danke, Herr Wendt.

  • Gero Micheler
    8. August, 2021

    Wunderschöner Text. Als halb im Englischen Verankerter konnte ich mit jeder Zeile mitfühlen. Das ‘protestantisch Kleinbürgerliche’, diese Mischung aus früherem Gartenzwerg, heutigem Lastenfahrrad, früherem Schwarzweißfernsehen, heutigem ARD-Dokudrama über Klimamigration Deutscher ins unfassbar freundliche Afrika, schmerzt täglich – allerdings muss man die heutige BBC, den Guardian und die Scottish National Party ausblenden. Das England der 70er Jahre war aber tatsächlich für Intellektuelle geistig frei, jenseits von Minerstrikes und Thatcherism. Deutschland war es seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eigentlich nie.

  • Olaf Haas
    8. August, 2021

    Wer sich einem Solitär wie Karl Heinz Bohrer journalistisch nachrufend annähert, der sollte es vermeiden, ihn vor seinen Karren zu spannen. Bei aller Wertschätzung, die Sie, sehr geehrter Herr Wendt, für Bohrer zum Ausdruck bringen und die ich teile, erscheint mir die Auswahl der Motive bzw. die Art ihrer Inszenierung ideologisch: er ist für Sie interessant, weil er schon 1968 das moralische Eiferertum der Linken diagnostizierte, das auch Sie nicht müde werden zu geißeln. Was in diesem Zusammenhang bei Bohrer aber nicht unterschlagen werden darf, ist seine immer zugleich schonungslose Diagnose des NS und seiner Fortschreibungen in der BRD, seine Abwehr der Rechten.
    Mit der Erwähnung des Meinhof-Artikels in der „konkret“ illustrieren Sie einerseits die Offenheit Bohrers nach allen Seiten und andererseits die von Zweifel ungetrübte Bereitschaft seines Chefs bei der FAZ, ihm zu glauben, dass er keine inspirierende Nähe zur terroristischen Linken habe. Das Motiv dieser Erwähnung ist die aktuelle Konjunktur des Vorwurfs der Kontaktschuld von Seiten des linken Establishments auf der Basis einer rechts-liberalen Diagnose der längst internalisierten Einschränkung des offenen Umgangs aller gesellschaftlichen Fraktionen miteinander.
    Innerhalb dieses Orientierungsrahmens liegt auch die Anführung von Bohrers FAZ-Artikel zum Verständnis für den britischen Falkland-Krieg in Absetzung von der provinziellen und fettprangenden Bundesrepublik in ihrer Banalität. Die Pointe dabei ist, dass für Bohrer solche Zeichnungen dem Reich der individuellen Phantasie entspringen. Wer glaubt, aus solchen Bildern einen Wunsch nach militärischer Wiederermächtigung Deutschlands ablesen zu können, der irrt. Für Bohrer jedoch muss so etwas sagbar bleiben: im Bewusstsein der verheerenden Auswirkungen einer Applikation der Imagination in der Politik. Er nannte das „mein Zwei-Welten-Prinzip“.
    Und klar und folgerichtig die Erwähnung, dass Bohrer heute kein Chefredakteur oder Ressortchef mehr sein könnte in dieser ach so gleichgeschalteten linken Presselandschaft, und natürlich war er auch kein Anhänger Merkels und ihres zu pragmatischen Politikstils: im Spiegel eines solchen Solitärs vergewissern Sie sich lediglich Ihrer eigenen Orientierungsmuster. Doch ein wirklicher Solitär eignet sich nicht zur Übertragung!

    • pantau
      12. August, 2021

      Vielleicht habe ich Sie auch mißverstanden, aber erscheint ein Solitär nicht immer nur retrospektiv als ein solcher und notwendig zu jedem konkreten Zeitpunkt immer irgendwo sich positionierend und scheinbar abhängig von ideologischen Seiten? Sie unternehmen ja auch eine hier kritikkritische Positionierung, die mir garnicht schmeckt mit ihrer Polemik auf die “ach so” linke gleichgeschaltete Presselandschaft, als stehe das unter Ideologieverdacht, sowas zu diagnostizieren. Mir sind Kritiker, die es sich sauer werden lassen, ungemein lieber als Kritikkritiker, die den Solitärversteher mimen. Vielleicht sind sich Bohrer u. Wendt verwandter, als Sie glauben.

    • pantau
      12. August, 2021

      Nachtrag: ich hatte Ihre These, Merkels Politikstil sei pragmatisch, vollkommen überlesen! Wer sich sogar aus der sicheren retrospektiven Perspektive so gründlich irren kann, sollte sich mit Urteilen in Fragen ideologischer Neutralität ebenso gründlich zurückhalten..

  • Thomas
    13. August, 2021

    Individuelle Kontexte

    Das ist so eine Sache, mit der „Übertragung“.

    „Wer sich einem Solitär wie Karl Heinz Bohrer journalistisch nachrufend annähert, der sollte es vermeiden, ihn vor seinen Karren zu spannen. (…) Doch ein wirklicher Solitär eignet sich nicht zur Übertragung!“

    Im Eifer wird der Vorgang der „Übertragung“ und der Abwehrmechanismus „Projektion“ oft synonym verwendet; wobei dann manchmal übersehen wird, daß diese beiden lediglich verwandt sind, weil die „Übertragung“ (unbewältigte Erlebnisse aus der Kindheit) lediglich eine spezielle Form der Projektion darstellt, die hier in Bezug auf den obigen Nachruf keinen Sinn macht.

    Ein Nachruf und ein Kommentar zu diesem sind zweierlei. Natürlich darf eine individuelle Schreibleistung einen Nachruf als „Karren“ und „ideologisch“ kritisieren, obwohl dieser Nachruf ja gerade die unabhängige Orientierung Bohrers und seine Überparteilichkeit besonders hervorhebt. Lädt sich diese Schreibleistung dann aber selbst mit allerlei Orientierungsmustern auf und wird somit selbst zu einem „Karren“ (was dieser Kommentar ja im Grunde zu kritisieren vorgibt), dann handelt es sich bei dieser individuellen Schreibleistung um eine klassische Projektion. Die „Abwehr“ könnte beispielsweise darin bestehen, sich mit etwas bei sich selbst auseinanderzusetzen, das man beim anderen nicht mag. Wenn jemand das wollte.

    Wollte der Verfasser des Kommentars mit seiner Schreibleistung indes lediglich ausdrücken „Ich mag diesen Nachruf nicht, weil er nicht modern genug ist“, dann hätte er das auch wesentlich kürzer sagen können.

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