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Literatur zu Weihnachten

Satanische Verse, Corona und Freiheitsbedrohung, ein Kränzchen für Honecker – zwei Publico-Buchempfehlungen und eine Besprechung

Der Flaschengeist, nach dem Teufel gefragt, antwortet undeutlich

Nach dem Attentat auf Salman Rushdie erscheinen seine „Satanischen Verse“ neu. Gegen keinen anderen Roman der Gegenwart gab es einen derart blutigen Feldzug. Wer sie noch nicht kennt, sollte die Geschichte von Verwandlung und Rache jetzt lesen. Denn aus dem Buch wurde (auch) eine Machtfrage – bis heute

Am 26. September 1988 erschien Salman Rushdies Roman „Die satanischen Verse“ im englischen Original. Bei einer Veranstaltung in der Chantanqua Institution, New York, stach der 24-jährige Hadi Matar am 22. August 2022 mehr als ein dutzend Mal auf Rushdie ein. Der Autor verlor dabei die Sehfähigkeit auf einem Auge, durch eine Nervenverletzung bleibt wahrscheinlich eine Hand gelähmt. Vierunddreißig Jahre liegen zwischen Buchpremiere und dem Attentat eines Muslim, der versuchte, das von Ruhollah Chomeini 1989 verkündete Todesurteil gegen Rushdie zu vollstrecken.

In diesen drei Jahrzehnten und vier Jahren stach ein anderer Vollstrecker auf den italienischen Übersetzer der „Satanischen Verse“ Ettore Capriolo in dessen Mailänder Wohnung ein (3. Juli 1991), ermordete ein weiterer den japanischen Übersetzer Hitoshi Igarashi (11. Juli 1991) an der Universität Tsukuba; ein Mob im türkischen Sivas brannte das Hotel nieder, in dem sich Rushdies türkischer Übersetzer Aziz Nesin befand, 37 Menschen starben dabei, Nesin konnte entkommen (2. Juli 1993). Im Oktober 1993 verletzte ein muslimischer Attentäter den norwegischen Verleger William Nygaard schwer. Chomeinis Fatwa richtete sich nicht nur gegen Rushdie selbst, sondern auf alle, die mit dem Buch in irgendeiner Verbindung standen und stehen, Verleger, Übersetzer, Händler. Und eigentlich auch seine Leser. Die Tatsache, dass der Roman in Großbritannien erschien, führte dort zu Demonstrationen, zu öffentlichen Verbrennungen des Buches (zum ersten Mal am 14. Januar 1989 in Bradford, genau einen Monat vor der Fatwa des iranischen Revolutionsführers) und zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Teheran und London durch den Iran.

Weltweit fanden sich sehr viele, die das Buch trotzdem verlegten, übersetzten, verkauften, kauften und lasen. Die meisten erklärten Feinde von Buch und Autor lasen es offenbar nicht. Nur so lässt sich erklären, warum sie einen drei Jahrzehnte langen Feldzug gegen einen fantastischen und über weite Strecken komödiantischen Roman über zwei indische Schauspieler führten, in dem es auch um Religion geht, allerdings als Nebenstrang, als gewitzte Überschreibung alter Texte, als waghalsige literarische Erfindung.
Unmittelbar nach dem Attentat auf Salman Rushdie brachte Penguin „Die satanischen Verse“ auch in Deutschland neu heraus. Wer sie bis jetzt noch nicht kennt, sollte sie spätestens jetzt lesen. Zum einen, um sich einen großen Roman nicht entgehen zu lassen, in dem es hauptsächlich um Identität geht, um Kultur, Herkunft und Neuerfindung, also sehr zeitgenössische und gleichzeitig klassische Themen. Zum zweiten, weil sich jetzt auch der seit 34 Jahren geschriebene und immer noch nicht abgeschlossene Metaroman des frömmelnden Hasses gegen dieses Buch als Nebentext mitlesen lässt. An Rushdies Roman lernt man indirekt viel über die Vorstellungswelt von Eiferern, die ein völlig weltliches Buch für einen frontalen Angriff auf ihren Glauben halten.

Eins sollten Leser allerdings vorher wissen: Wer nicht ein gewisses Maß an Koran- und Islamkenntnis mitbringt, dürfte den raffinierten Anspielungsapparat Rushdies mit seinen doppelten und dreifachen Böden kaum verstehen. Was im übrigen gar nicht das eigentliche Lesevergnügen ruinieren würde; auch derjenige, der sich am Ende fragt, warum es um Himmels Willen gegen diesen Text, seinen Verfasser, Verleger und Übersetzer überhaupt eine Todesfatwa gibt, kann sich vorher in eine farbenprächtige Geschichte vertiefen, die teils in Bombay spielt, teils an Bord eines entführten Flugzeuges, teils in England, teils im Kopf des Helden Gibril, die von Liebe handelt, Verwandlung und Rache mit tödlichem Ausgang, erzählt in einer melodiösen Sprache, die von den ersten Seiten an einen Sog erzeugt und jeden mitreißt, der sich darauf einlässt.

Vermutlich glauben viele Religionseiferer (und nicht nur sie), Rushdie hätte so etwas wie satanische Verse geschrieben. Deshalb ein ganz kurzer Einschub, was es mit diesem titelgebenden Phänomen auf sich hat.
Bei den „satanischen Versen“ oder „satanischen Einflüsterungen“ handelt es sich um Verkündigungen, die Mohammed von Erzengel Gabriel in dem Glauben entgegennahm, sie kämen wie alles aus dessen Mund von Allah. Tatsächlich stammten sie von Satan, dem es für kurze Momente gelang, Gabriel zu verwirren, um mit seiner Hilfe falsche Zeilen in den Korantext zu bringen, beispielsweise eine Lobpreisung der drei vorislamischen, also heidnischen Gottheiten von Mekka. So jedenfalls die Überlieferung. In sehr frühen Biografien Mohammeds finden sich diese Verse, etwa in der Chronik der Propheten und Könige von Jarīr ibn Yazīd al-Ṭabarī (839 – 923). Falls sie tatsächlich in antike Koran-Ausgaben Eingang fanden, wurden sie längst aus dem Text entfernt. Aber ein großer Teil des islamischen Denkens von Klerus und Laien kreist bis heute um die Idee des unbezweifelbaren Wort Gottes mit dem (abschließenden) Siegel des Propheten, dessen Reinheit ständig gegen Fälschungen, aber auch Abweichungen und Neuerungen verteidigt werden muss. Die rituelle Steinigung des Satan an einer bestimmten Stelle bei der Hadsch in Mekka gehört in diesen Zusammenhang: Denn dort lauert nach der Überzeugung von Millionen Muslimen der Scheitan in Person, um nach wie vor falsche Worte in die heilige Schrift zu schmuggeln. Durch den schottischen Orientalisten William Muir 1858 kam die Wendung „satanische Verse“ auch in die westliche Welt. Die diabolischen Webfehler gehören also sowohl zur Geschichte des Islam als auch zu seinem religiösen Überzeugungssystem.

In Rushdies Roman spielen sie erst einmal über viele Kapitel keine Rolle. Vielmehr purzeln zwei Männer aus einem gerade von Sikh-Terroristen gesprengten Flugzeug, das sie eigentlich von Bombay nach London bringen sollte. Beide überleben wundersamerweise den Sturz auf Englands schneebedeckte Erde. Beide Männer, indische Schauspieler, in Bombay aufgewachsen, durchlaufen eine mirakulöse Verwandlung, die sie aneinanderkettet. Und nur einer von ihnen übersteht die seltsame Zwillingsexistenz am Ende. Der eine, der früh verwaiste Ismail Najmuddin, dem seine Mutter den zusätzlichen Namen Gibril, also Gabriel gab, den er dann auch zu seinem Künstlernamen macht, stammt aus einer armen Familie und wäre wahrscheinlich wie sein Vater ewig ein Dabbawala geblieben, also ein Essenausträger, wenn nicht sein Ziehvater den gutaussehenden Knaben zum Vorsprechen in ein Bollywood-Studio geschickt hätte. Dieser okkultistisch interessierte Ziehvater bringt ihn auch auf die Idee der Wiedergeburt, die dann noch eine große Rolle spielen soll. Von ihm stammt noch ein anderer romanbestimmender Gedanke (Rushdie streut seine Anspielungen in kleinen Bröckchen ein), nämlich der an Gott und Teufel. Mhatre, der Ziehvater, erzählt ihm, wie er einmal einen Flaschengeist befragte, ob es Gott gebe, und der Dschinn stumm blieb. „Na ja, okay, sagte ich, wenn du die Frage nicht beantworten willst, versuch ich‘s doch mit der, und fragte ganz direkt: Gibt es einen Teufel? Daraufhin begann die Flasche – babrebap! – zu vibrieren, anfangs langsamlangsam, dann schneller-schnell, wie ein Wackelpudding, bis sie – ai-hai – vom Tisch sprang, in die Luft und – o ho! – in tausendundein Stück zerbrach, kaputt.“ War das nun ein Ja? Oder eine Ermahnung, die Frage nie wieder zu stellen? Der spekulative Gedanke, es gebe vielleicht keinen Gott, aber sehr wohl einen Teufel, dieser Geist schlüpft aus der Flasche, um durch den Roman zu spuken, was bedeutet, in verwandelter Form und an unerwarteten Stellen wieder aufzutauchen.

Als Bollywoodstar gelangt Gibril schnell zu Berühmtheit, er spielt in so genannten theologischen Seifenopern Götter, den Elefantengott Ganesha, den Affenkönig Hanuman. Das Filmgeschäft verschafft ihm Reichtum und ein üppiges Liebesleben, in dem er die Verehrerinnen massenweise konsumiert, ohne sich sonderlich um deren Gefühle zu scheren. Bis ihn, den Schauspielergott, eine rätselhafte Krankheit befällt und fast tötet. Als er sie überlebt, stellt er fest, dass er nicht mehr an Allah glaubt. Er lässt sich in ein Luxushotel fahren und stopft sich am Büffet mit Schinken und Schweinswürsten voll. Als das Strafgericht ausbleibt, ist die Glaubensangelegenheit für ihn endgültig erledigt. Bei der Gelegenheit verliebt er sich zum ersten Mal im Leben, und zwar in eine englische Bergsteigerin, die ihm in diesem Hotel über dem Weg läuft. Er besteigt das Flugzeug, eben das, was dann zum Ziel der Terroristen wird, um ihr zu folgen und sein altes Leben hinter sich zu lassen.

Der andere Teil des unfreiwilligen Zwillingspaars, Salahuddin Chamchawala, der sich Saladin Chamcha nennt, stammt aus einer reichen Unternehmerfamilie, und floh als Jugendlicher geradezu aus Bombay nach England, um seinem tyrannischen Vater zu entkommen. Er verwandelt sich in einen Engländer, englischer als die meisten Eingeborenen. Als Stimmenimitator in Radio und Fernsehen schaffte er es in seinem Wunschland zu Erfolg und Wohlstand, wenn auch nicht zu dem Glück, das er sich erwartet hatte. Imitator, maskierte Auftritte – was in der Nacherzählung wie die wenig subtile Schilderung eines Identitätsproblems klingt, löst Rushdie in seinem eleganten Sprachfluss auf. Überhaupt scheint er die Figur des Saladin mehr zu lieben als alle anderen.
Nach ihrem Sturz verwandeln sich beide: Den neuerdings ungläubigen Gibril umgibt eine strahlende Aura, um ihn kümmert sich eine Witwe, die ihn buchstäblich unten aufliest. Selbst der hartnäckige Mundgeruch des Stars – eine Schauspielerin meint: „wenn Filme riechen könnten, würde er noch nicht einmal die Rolle des Aussätzigen kriegen“ – verflüchtigt sich. Vielmehr, er geht auf Saladin über, der sich obendrein auch durch plötzlich durchbrechende Hörner in ein ziegenbock- beziehungsweise scheitanähnliches Wesen verwandelt und – als Engländer mit Überidentifikationssyndrom– Ärger mit der Polizei und den Einwanderungsbehörden bekommt, die ihn für einen illegalen Migranten halten. Gibril, der ihn hätte retten können, schweigt, und verrät ihn damit.

Diesen neuerdings glaubenslosen Schauspieler plagen schon seit seiner Flugreise Träume, in denen er glaubt, tatsächlich Gabriel zu sein („Ich bin der verfluchte Erzengel, Gibril, persönlich, in Lebensgröße“). Den unwilligen Engel quälen Vision von der Urzeit des Islam, in denen der Prophet, der dort Mahound heißt, in der Stadt Jahilia (was so viel wie Unwissenheit vor dem Auftauchen des Islam heißt) seine wenigen Gefolgsleute um sich schart, und ihnen den Plan zu einem politischen Geschäft erklärt: Er werde unter den eigentlich verbannten Götzen drei auswählen, die weiter verehrt werden dürften, dafür, so hatten es ihm andere angeboten, werde er einen Sitz im Rat von Jahilia und damit weltliche Macht erhalten. Erzengel Gabriel bestätigt ihn angeblich genau darin – es sind die oben erwähnten apokryphen, satanischen Einflüsterungen.
Während Gibril, der das nicht will und sich sogar dagegen wehrt, den Wandel zu einer Prophetengestalt durchläuft, gewinnt der zum gehörnten Schaitan verhexte Saladin die macht, Gedanken und Träume von Menschen zu beeinflussen (wobei der, was seine Rache an Gibril angeht, einfach zum Telefon greift; die abgewandelten satanischen Verse spielen bei seinem Projekt, den falschen Heiligen in den Wahnsinn zu treiben, eine wichtige Rolle).

Rushdies literarisch-märchenhafte Erzählung über den Islam setzt geschickt an genau den Stellen an, in denen Mohammed sich vor allem als gewiefter Politiker erweist, der in der Tat sehr oft Verkündigungen empfängt, die ihm wunderbar passen (unter anderem sogar in seinem häuslichen Ehestreit mit Haupt- und Nebenfrau um eine Untreue mit Maria der Koptin, den Gott einmal sehr kleinteilig und wohlgefällig für ihn löst. Wer etwas tiefer darin eindringen will, dem sei die Sure 66 („at-Tahrim, das Verbieten“) empfohlen.
Zweifellos erkannten einige Theologen die Schärfe und den Witz, den Rushdie in seinem Roman mehr versteckt, als dass er ihn seinem Leser unter die Nase reibt, sie erkannten jedenfalls die Gelegenheit, aus dem Buch eine Machtfrage zu machen. Das wurde sie. Und sie blieb es bis heute. Zwar behandelt er, was vielen Muslimen als sündig vorkommen muss, den Abfall vom Glauben, vor allem aber die Urangst vor verfälschten Teilen des Koran. Aber wie jeder große Roman findet auch Rushdie eine andere Interpretationsmöglichkeit: Jemand verlässt den Glauben, er wird von Träumen heimgesucht, am Ende holt ihn der Teufel. Blasphemisch ist das Buch nicht. Die immer noch gültige Entscheidung des Klerus, ihn und das Werk zum Feind zu erklären, hat Rushdie nicht provoziert.

In der neuen Ausgabe entspricht die Übersetzung dem alten Text. Was ein wenig schade ist, denn in der deutschen Version muss das klingende Gibreel des Helden mit dem langgezogenen Vokal aus welchen Gründen auch immer dem wenigen klangvollen Gibril weichen. Und „sogar Mord hast du dir leisten können“, was eine Geliebte dem treulosen Gibril (auf Seite 66) an den Kopf wirft, verzerrt das Original ziemlich, zumal der Held bis dahin gar keinen Mord begangen hat. „To get away with murder“ bedeutet einfach nur: mit etwas durchkommen.
Aber die Kleinigkeiten stören keinen Leser, sie gehen unter im Sprachfluss. Rushdies „Satanische Verse“ ist mehr denn je ein Buch für die Gegenwart. Und gleichzeitig ein zeitloser Roman, einer der wenigen, der auch die nächsten Generationen von Liebhabern und Feinden dieses Romans überleben wird.

 

Salman Rushdie „Die satanischen Verse“, Penguin, 720 Seiten, 14 Euro 


Nur wer zurückschaut, kann sich korrigieren

In dem Sammelband „Pandemiepolitik – Freiheit unterm Rad“ sezieren 17 Autoren aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen die deutsche Corona-Politik – und deren Langzeitfolgen für die Gesellschaft

Vor einigen Wochen trat die Premierministerin der kanadischen Provinz Alberta Danielle Smith vor die Kameras, um für die autoritären Coronamaßnahmen der Vergangenheit um Verzeihung zu bitten. „Es tut mir zutiefst leid für jeden“, so Smith, „der aufgrund seines Impfstatus in unangemessener Weise diskriminiert wurde. Es tut mir sehr leid für jeden Regierungsangestellten, der wegen seines Impfstatus entlassen wurde, und ich heiße sie willkommen, wenn sie zurückkommen wollen.“

Die Regierungschefin blieb bis jetzt die einzige Politikerin, die ausdrücklich um Entschuldigung bat. In Deutschland klingen die Stellungnahmen der Verantwortlichen etwas anders. Kürzlich erklärte der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer vor Bürgern, es sei tatsächlich zu Fehlern gekommen: „Es war nicht notwendig, Kindergärten und Schulen zuzumachen, die Bundesnotbremse war nicht notwendig. In dieser Zeit sind sehr, sehr viele Ungerechtigkeiten passiert, es gab sehr viele Entscheidungen, die man heute anders treffen würde. Das kann man nicht ungeschehen machen. Aber man kann offen darüber reden.“ Um dann zu empfehlen, jetzt „ein stückweit nach vorn zu leben, und vielleicht auch nicht so gegenseitig aufzurechnen.“
Ungerechtigkeiten ereigneten sich also im tiefsten Passiv, Entscheidungen fällte ein Kollektiv mit der Bezeichnung man. Und überhaupt sollte beispielsweise ein Krankenpfleger, der gekündigt wurde, weil er sich nicht impfen lassen wollte, den anonymen Verantwortlichen verzeihen, die ihm dann ihrerseits großzügig vergeben.

Der Sammelband „Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad?“ hält sich ausdrücklich nicht an die Empfehlung, gefälligst nach vorn zu schauen. Er bietet mit Essays von 17 Autoren die bisher gründlichste Retrospektive zur deutschen Corona-Politik. Der Reiz des von Sandra Kostner und Tanya Lieske herausgegebenen Bandes liegt darin, dass die Autoren aus sehr unterschiedlichen Perspektiven die staatlichen Maßnahmen der vergangenen zwei Jahre betrachten, aber auch das Verhalten von Medien und Wissenschaft. Ohne Rückblicke lässt sich für Gegenwart und Zukunft nichts lernen. In der Textsammlung schreiben mehrere Philosophen und Historiker, zwei Ökonomen, ein Jurist, ein Pädagoge und ein Theologe. Ihre Themen fächern sie weit auf. Eine gern gebrauchte Formel von Politikern, die ähnlich wie Kretschmer argumentieren, lautet: Mit dem Wissen von heute würden sie nicht noch einmal so entscheiden, also Lockdowns verhängen oder Ungeimpften erklären, sie seien „raus aus dem gesellschaftlichen Leben“ (Tobias Hans).

Der Philosoph Markus Riedenauer fragt deshalb in seinem Essay: Wie stand es um das Wissen von damals? „Wissen“, meint er, „wird zunehmend verwechselt mit Information und mit dem Zugriff auf Daten.“ Zur Wissenschaft gehörte es zumindest früher selbstverständlich, Erkenntnisse immer nur als vorläufig und als Teil des Ganzen zu nehmen, zu dem immer auch ein sehr ausgedehntes Gebiet des Nichtwissens gehört. Verbindet sich der unreflektierte Anspruch des Wissens auch noch mit dem Wahren und Guten, so Riedenauer, entstehe eine wissenschaftlich verbrämte Hybris: „Ein neuer moralischer Dogmatismus ersetzt die Kraft des besseren Arguments.“ Gerd Morgenthaler, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität Siegen, befasst sich damit, wie sich Politiker gern mit der Berufung auf ein Kollektiv namens die Wissenschaft gegen Kritik immunisieren – und wie diese Praxis, nicht mehr abzuwägen und sich zu korrigieren, zu einer Erosion im verfassungsrechtlich vorgesehenen Machtgefüge führt. Und zwar, wie Morgenthaler schreibt, nicht nur in der Corona- sondern schon vorher in der Euro- und Migrationspolitik.

Der Ökonom Robert Obermaier, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Passau, führt die Denkfallen vor, in die Politiker geraten, wenn sie jedes Risiko vermeiden wollen, und sich dabei an Worst-Case-Szenarien orientieren. Andere Autoren untersuchen die Verengung der Debattenräume (zu beobachten ebenfalls nicht nur in der Auseinandersetzung über den Sinn der Corona-Maßnahmen). Herausgeberin Sandra Kostner, Historikerin an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch-Gmünd, prägt in ihrem Beitrag den Begriff des „gesellschaftlichen Long Covid“, also der Verwerfungen und Verirrungen im Verhältnis zwischen Staat und Bürgern, die vermutlich auch bleiben, wenn selbst in Deutschland die letzten Maßnahmen gegen das Virus verschwinden. Individuelle Freiheit verwandelt sich in diesem neuen autoritären Denken zur Bedrohung des Allgemeinwohls, als dessen Hüter sich Amtsinhaber verstehen, und Grundrechte zu milden Gaben, die der Staat zugesteht oder entzieht. „Diese Haltung befördert einen Staat“, so Kostner, „der in seinen Bürgern keine mündigen Individuen, sondern unmündige Schutzbefohlene sieht, deren Freiheitsgebrauch er durch detaillierte Verhaltensanweisungen reglementieren muss.“
Kostner, die auch zu den wichtigsten Köpfen des „Netzwerks Wissenschaftsfreiheit“ zählt, setzte sich in der Vergangenheit auch mit den Folgen der Identitätspolitik auseinander.

Der Wissenschaftlerin, geboren 1974 in Calw, verdanken die Leser nicht nur diesen Sammelband, sondern auch das Hermann-Hesse-Zitat im Titel. In einer idealen Welt würden sich sämtliche Bundes- und Landespolitiker „Freiheit unterm Rad“ und auch die meisten Medienmitarbeiter zulegen.
Nach ihrer Beteuerung in den vergangenen 30 Monaten, ihre Maßnahmen seien alternativlos, begingen die meisten Angehörigen des politisch-medialen Komplexes mit ihrer Vorwärts und Vergessen-Forderung gerade den nächsten Fehler nach exakt dem gleichen kollektiven Muster.

 

Sandra Kostner, Tanya Lieske (Herausgeber) „Pandemiepolitik – Freiheit unterm Rad?: Eine interdisziplinäre Essaysammlung“, ibidem, 210 Seiten, 24 Euro


 

 

Ich und Erich, wir beide

Der langjährige Zeit-Herausgeber Theo Sommer erinnert sich. Herausgekommen ist eine eitle Rechtfertigungssuada: Der Mann, der noch 1986 in der DDR eine „stille Verehrung“ für Erich Honecker ausmachte, erklärt, warum er sich nicht geirrt hat. Die Autobiografie bietet bemerkenswerte Einblicke in den westdeutschen Meinungsbetrieb

Manchmal deutet schon die Verlagsankündigung auf das zentrale Problem eines Buches hin. Propyläen bewirbt das Buch des langjährigen Zeit-Herausgebers Theo Sommer „Zeit meines Lebens. Erinnerungen eines Journalisten“ mit dem Satz, der Autor habe „viermal Deutschland erlebt“, nämlich die Weimarer Republik, das Dritte Reich, die Bundesrepublik und die DDR. Zur Weimarer Republik kann der 1930 geborene Autor naturgemäß keine eigenen Wahrnehmungen beisteuern. Sein DDR-Erlebnis beschränkte sich auf drei staatlich betreute Reisen durchs Land, 1964, 1984 und 1986, auf denen er mit Erich Honecker, Egon Krenz und etlichen anderen Funktionären parlierte und Zeit-Lesern speziell über den Generalsekretär die Erkenntnis mitbrachte: „Die Bürger des anderen deutschen Staates bringen ihm fast so etwas wie stille Verehrung entgegen; in Gesprächen schlägt sie immer wieder durch.“ Selten in der Mediengeschichte dürfte es einen Journalisten gegeben haben, der von seinem Thema so wenig verstanden und in seinen Texten eine derartige Stusshalde aufgetürmt hatte wie der Leitartikler aus Hamburg über den ostzonalen Staat.

In Sommers Fall bleiben realiter also zwei Deutschlands übrig, NS-Zeit und Bundesrepublik. Es kostet Mühe, sich durch seine Autobiografie zu arbeiten, aber am Ende steht durchaus ein kleiner Gewinn. Theo Sommer, der im August 2022 im Alter von 92 Jahren starb, stand idealtypisch für ein bundesrepublikanisches Milieu, das jahrzehntelang Begriffe und Diskussionen bestimmte, für eine chattering class, die mit ihrer ganz speziellen Mischung aus Mediokrität, Hochmoral und bodenloser Selbstwertschätzung die Grundlagen für sehr vieles, wenn nicht sogar alles legte, was das offizielle Deutschland heute ausmacht.

Da schon das Stichwort durcharbeiten fiel: Die ersten Kapitel gehören zu den allerzähesten des Buchs. Sommer breitet seine Reminiszenzen an die Burg Hechingen aus, in der sein Großvater als Kastellan diente, er listet die Kinderkrankheiten des sehr jungen Theo auf und noch dies und das, samt und sonders ohne die geringste literarische Verdichtung, vor allem – und das gilt für das Opus insgesamt – ohne das allerkleinste Körnchen Witz. Dann folgt allerdings ein nicht uninteressanter Teil, der auch etwas zur bundesdeutschen Tiefengeschichte beiträgt, nämlich der Abschnitt über Sommers Zeit in der Adolf-Hitler-Schule Sonthofen, einem Institut zur Erziehung des so genannten Führernachwuchses. Bei den Adolf-Hitler-Schulen handelte es sich um deutlich exklusivere Einrichtungen im Vergleich zu den „Nationalpolitischen Erziehungsanstalten“, kurz Napola: Von denen gab es seinerzeit 37, Hitler-Schulen nur drei (was Sommer den Leser auch wissen lässt). Und noch viel mehr. Auf der Führerschule in Sonthofen, schreibt der Autobiograf, habe er manches „Richtige im Falschen“ gelernt. Dazu vergleicht er die von ihm mit AHS abgekürzte Bildungseinrichtung mit dem Internat Schloss Salem: „Kurt Hahn, der Gründer des deutschen Elite-Internats Schloss Salem“, so Sommer, „hat einmal formuliert, welche Eigenschaften er seinen Zöglingen beibringen wollte: ‘Gemeinsinn; Gerechtigkeitsgefühl; Fähigkeit zur präzisen Tatbestandsaufnahme; Fähigkeit, das als Recht Erkannte durchzusetzen gegen Unbequemlichkeiten, gegen Strapazen, gegen Gefahren, gegen Hohn der Umwelt, gegen Langeweile, gegen Skepsis, gegen Eingebungen des Augenblicks; Fähigkeit des Planens; Fähigkeit des Organisierens: Einteilung von Arbeiten, Leitung von Jüngeren; Fähigkeit, sich in unerwarteten Situationen zu bewähren. Sorgfalt im täglichen Leben, bei der Erfüllung besonderer Pflichten; […] Leistungen im Unterricht: Deutsch, Alte Sprachen, Neue Sprachen, Geschichte, Naturwissenschaften, Mathematik; praktische Arbeiten; künstlerische Leistungen; Leibesübungen, Kampfkraft, Zähigkeit, Reaktionsgeschwindigkeit.‘ Persönlichkeitsbildung und Erziehung zur Verantwortung waren die Leitideen.“
Und:
„So viel anders waren die Erziehungsziele der Adolf-Hitler-Schulen auch nicht. Es gab dort manch Richtiges im Falschen. Auch das Prinzip ‘Jugend wird von Jugend geführt‘, das schon die Bündische Jugend hochhielt, klingt bei Hahn an, wenn er sagt, die Jungen seien ‘in der freiwilligen Unterordnung, im verantwortlichen Befehlen‘ zu üben – wie übrigens ‘im Bestehen von Gefahren und Strapazen‘. War das AHS-Prinzip, gehorchen zu lernen, um befehlen zu können, und die Schüler immer wieder an ihre Leistungsgrenze zu führen, wirklich etwas total anderes? Wir wurden zum Führen erzogen, gewiss, doch wir mussten auch gehorchen lernen.“

Die Lektion habe er dort gelernt, teilt Sommer mit, bekräftigt durch ein durchaus affirmativ eingestreutes Zitat des damaligen Reichsjugendführers: „Durchsetzungskraft in der Stubenführung schlug kräftig zu Buche. Es galt das Wort Baldur von Schirachs: ‘Wir wollen keine bleichen Musterknaben. Wir verlangen von euch Mut, Tapferkeit, Entschlossenheit und Draufgängertum. Angeber können wir nicht brauchen.‘“ Die Zeit in der Adolf-Hitler-Schule, notiert er, habe ihn für später geformt, und das durchaus zu seinem Vorteil (dazu nachher etwas mehr): „Auch eine gewisse Härte gegen mich selbst, ein robuster Durchhaltewillen, Selbstvertrauen und, wenn nötig, entschlossene Sturheit haben sich mir erhalten.“

An einer anderen Stelle schreibt er: „Reichlich indoktriniert fieberten viele von uns dem »Endkampf« entgegen. Doch was wir dann alsbald über die nationalsozialistische Herrschaft erfuhren, immunisierte uns für alle Zeiten gegen sämtliche totalitären Heilslehren.“ Nur ein paar Seiten weiter heißt es, so ideologisch sei die AHS gar nicht gewesen. An den politischen Unterricht, so Sommer, habe er keine Erinnerungen. Dass seine Eltern beide Mitglieder der NSDAP waren, sei ihm zu seiner Überraschung erst später bei der Durchsicht von Familienunterlagen aufgefallen.

Der kameradschaftliche Umgang an der Führerschule, von der er berichtet, die Tatsache, dass die Schüler ihre Erzieher duzten, das alles gehört in den Kosmos des Nationalsozialismus, dessen Volksgemeinschaft, die viele andere ausschloss, im Inneren einen Egalitarismus bot, der sich bewusst gegen die Hierarchie des alten kaiserlich-konservativen Deutschland richtete. Götz Aly hatte in seinem (von links wütend attackierten) Buch „Hitlers Volksstaat“ die sozialpolitische Seite dieser Herrschaftsausübung beschrieben. Sommer hätte aus seinen Erfahrungen etwas zur Mentalitätsgeschichte dieser Zeit beitragen können. Aber dazu wäre ein Minimum an kritischer Distanz zu seinem Gegenstand nötig gewesen, also zu sich selbst.

Im Vergleich mit den Autobiografien von Generationsgenossen wie Karl Heinz Bohrer oder Georges-Arthur Goldschmidt (beide übrigens auch Autoren mit prägenden Internatserfahrungen) fällt noch stärker auf, wie seicht und unreflektiert sich Sommer erinnert, teils aus Unvermögen, seine eigene mit der Gesellschaftsgeschichte zu verweben, aber auch aus seinem Unwillen, überhaupt über Dissonanzen und Brüche nachzudenken. Die Gefahr der Selbsterforschung erledigt er in einem Satz: „Nur von der politischen Prägung, die ich auf der Ordensburg erfahren habe, ist nichts nachgeblieben.“

Warum verfasst jemand überhaupt seine Biografie? Um möglicherweise beim Schreiben etwas herauszufinden, was er über sich noch nicht wusste. Falls die Erkenntnis auch für andere von Interesse ist, lohnt die Veröffentlichung. Anderenfalls bleibt sie besser ein erweitertes Familienalbum. Die Selbstentdeckung scheitert bei Sommer schon an der Sprache. Der Mann, der die Zeit lange Jahre leitete, kann partout nicht schreiben. Später im Buch notiert er, viele journalistische Texte von ihm seien umständehalber in Eile verfasst worden und deshalb halbfertige Ware. Tatsächlich lieferte er sich damals in Hamburg mit Robert Leicht und ein paar anderen Weltlaufdeutern tote Rennen um den lebertranigsten Leitartikel auf der Frontseite, unter Kollegen auch „Grabplatte“ genannt. In „Zeit meines Lebens“ beweist er, dass Aufsätze oft schlechter werden, wenn ein Verfasser seines Kalibers mehr Muße dafür hat. Dass sein pomadiger Stil über längere Strecken wie eine Parodie von Eckhard Henscheid klingt, entschädigt immerhin für manches. Da entdeckt Sommer beispielsweise, „dass meine Familie ihre Wurzeln ganz unten im Volk hat“; er erinnert sich an „die blonde BDM-Führerin, die mich während meines Besuchs betreute und mein vierzehnjähriges Blut ganz schön in Wallung brachte“, es kommt ernsthaft das „Lausbubenzeitalter“ vor. Über das Kriegsende fällt ihm der Satz ein: „Ende März oder Anfang April brach die Götterdämmerung an.“ Und dann? „Die Jahre der Gärung schlossen mit der Mittleren Reife ab.“ Kurzum, der Autobiograf klingt wie Hermann Löns, nur zehnmal schlechter.

Nach einer längeren und ledernen Passage über seinen Einstieg bei der Zeit folgt das zweite unter psychologischen Gesichtspunkten einigermaßen ertragreiche Stück des Buchs, nämlich die Beschreibung seiner DDR-Reisen. Die erste findet 1964 statt; Theo Sommer leitet sie mit einem Lob für die neue ökonomische Politik Walter Ulbrichts ein. „Die Herausbildung eines libertär-marxistischen SED-Regimes“, so unser Chronist, „erschien nicht länger als ein Ding der Unmöglichkeit.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte das beinahe libertär-marxistische Regime gerade seine eigenen Bürger eingemauert. 1964 kehrte der Schriftsteller Erich Loest nach sieben Jahren Zuchthaus wegen „konterrevolutionärer Gruppenbildung“ ins überwachte Zivilleben zurück, andere traten wegen ähnlicher Delikte gerade die Reise in Gegenrichtung an. Mit Indignation nimmt Sommer am Sozialismus weniger die Herrschaftspraxis wahr, sondern dessen Ästhetik, die dem Hamburger zu wünschen übriglässt: „Die Menschen ärmlich gekleidet, in tristem Einheitsschnitt ohne Schick und Farbe.“

Bei der nächsten vom DDR-Presseamt rundum betreuten Visite einer ganzen Journalistentruppe mit Sommer mittemang im Jahr 1984 kommt ihm das Land schon sehr viel bunter vor. Und er darf mit Erich Honecker sprechen. Wobei Sommer couragiert darauf besteht, auch ja an der richtigen Stelle empfangen zu werden: „[…] mir ging es um ein Gespräch mit dem Staatsratsvorsitzenden der DDR, nicht mit dem Parteichef. Ich wollte daher keinen Termin im Gebäude des Zentralkomitees, sondern einen im Staatsratsgebäude.“ Als ob der DDR-Oberste ernsthaft zwischen beiden Rollen unterschieden hätte. Sommers Urteil über Honecker, wohlgemerkt in seinem Buch von 2022: „Ein Staatsmann von Format“.
Seine Reise führt ihn und die Kollegen überhaupt nicht durch die realexistierende DDR, sondern durch den Ausschnitt, den sie nach Maßgabe diensteifriger Funktionäre sehen sollen. Jeder westliche Journalist, der damals ostwärts reiste, wusste das. Sommer macht diesen Unterschied nie zum Thema, damals in seinen Artikeln für die Zeit genauso wenig wie in seinem Buch. Es scheint, als wäre die Funktionärs-DDR auch genau das gewesen, was er sehen wollte.
„Das randvolle Programm“, heißt es in seinen Erinnerungen, „brachte uns in Kontakt mit vier Politbüromitgliedern (Axen, Felfe, Hager, Mittag) und einer Handvoll Professoren, zwei Bischöfen und mehreren Oberbürgermeistern, mit den Gebietsparteisekretären Timm in Rostock und Modrow in Dresden, mit dem Umweltminister Reichelt und dem Staatssekretär für Kirchenfragen Klaus Gysi. Wir sprachen mit einem guten Dutzend Schriftstellern, darunter Hermann Kant, Heiner Müller und Günter de Bruyn, Monika Maron und den drei Helgas: Königsdorf, Schubert und Schütz.“

Über die Plaudereien mit Egon Krenz und Modrow erfahren die Leser viel, über das Gespräch mit den Schriftstellern und den noch ganz am Rand miterwähnten Bauarbeitern nichts. Seine Erkenntnis von damals, die DDR-Bürger brächten Honecker „fast so etwas wie stille Verehrung entgegen“, zitiert Sommer im Buch, um festzustellen: „Ich glaube aber nicht, dass ich mich in meiner Einschätzung getäuscht habe.“ Es folgt eine der gespenstischsten, aber in ihrer Offenheit auch lehrreichsten Seiten des Buchs, nämlich ein Lob Honeckers, gesungen von dem langjährigen Herausgeber der Zeit um das Jahr 2022: „Die meisten Neuerungen gingen auf die Jahre seit 1971 zurück, als Honecker die Nachfolge Walter Ulbrichts antrat. Realismus statt Utopie; bessere Befriedigung der materiellen Bedürfnisse; weniger Angst, mehr Angebot; Intensivierung der Produktion und des Wohnungsbaus; Ankurbelung des Dienstleistungsangebots, Umweltschutz, nicht zuletzt die Einführung von Sexualberatungsstellen – alles wurde Honecker gutgeschrieben und zugutegehalten. ‚Honi‘ nannte ihn keiner, das war westlicher Sprachgebrauch und wurde als genierlich empfunden. Es war ‚der Chef‘, ‚der Erste‘ oder einfach Erich. ‚Erich währt am längsten‘, hieß eine Kabarettnummer der Berliner ‚Distel‘. Das Publikum im ausverkauften Haus applaudierte lang und heftig. Der Jubel verriet etwas von der heimlichen Zuneigung derer, die Honeckers Regiment unterstanden.“

„Der Chef“ oder „der Erste“, so nannten ihn Leute in Funktionärskreisen, gelegentlich auch „EH“. Wer so sprach, deutete seine Zugehörigkeit zum richtigen Kreis an.
Zu keinem Zeitpunkt bemühte sich Sommer mit seinen anderen Narrativschaffenden um ein Gespräch mit Oppositionsvertretern. Und das, obwohl ihm Honecker versichert hatte, er könne sich völlig frei in seiner DDR bewegen, nichts solle ihm verschlossen bleiben. Das lässt nur einen Schluss zu: Die Oppositionellen interessierten ihn schlicht und einfach nicht, mehr noch, er empfand ihre Existenz, von der er immerhin wusste, als lästig. „Wer die Gegen-Revolution in der DDR fordert und fördert“, belehrte Sommer damals seine Leser, „wird die allmähliche Evolution blockieren. Die Veränderungen müssen zwangsläufig von den Trägern des Regimes bewirkt werden.“

Bei Sommer handelte es sich nicht um einen Solitär, sondern um einen Journalistentypus, den es im Dutzend gab. Seine damals mitreisende Zeit-Kollegin Nina Grunenberg überschrieb einen ihrer DDR-Artikel mit: „Häuserbauen ist ihnen wichtiger als Fahnenhissen“. Den Parteisekretär von Rostock zeichnete sie als bescheidenen Arbeiter, der sich für das wohl seiner Bürger aufreibt. Privilegien genieße er keine, „außer dem, dass er für alles verantwortlich ist. „Bei uns“, fand Grunenberg, „wäre er Ministerpräsident.“ Dem damaligen Mann Monika Marons vertraute Grunenberg damals an, sie könne sich vorstellen, auch in der DDR zu leben. Er fragte zurück: „Hast du dir mal überlegt, als was?“ Sie ging offenbar selbstverständlich davon aus, auch dort als leitende Redakteurin im „Neuen Deutschland“ oder der „Wochenpost“-Redaktion zu sitzen statt an einem Kartoffelsortierband. In Sommers Reminiszenz taucht neben anderen auch der Spiegel-Redakteur Gerhard Spörl als Mitglied der Reisegruppe auf. Einer größeren Öffentlichkeit wurde der Journalist kürzlich noch einmal durch den Skandal beim RBB in Erinnerung gerufen; zusammen mit Ehefrau und Intendantin Patricia Schlesinger war er Teil der tatkräftigen Zugewinngemeinschaft im Dreieck zwischen Sender, Berliner Messe und dem Powerpärchen. Im Jahr 1986 so Sommer, habe Spörl die DDR dafür gelobt, dass sie „Wohlstand und Ordnung“ verwirklicht hätte.

An wirklich keiner Stelle kommt Sommer in seinem Buch der Gedanke, sein Wohlgefallen an der autoritären DDR könnte in einer tiefen, aber trotzdem soliden Verbindung mit seiner Prägung durch die NS-Ordensburg stehen, die er ein paar Kapitel vorher in mildleuchtenden Farben malt. Wer sich durch seine Erinnerungen arbeitet, kann an diesem Zusammenhang kaum vorbeilesen. Wie in einem therapeutischen Gespräch zeigen sich tiefere Persönlichkeitsschichten. Nur dem Autor selbst scheint davon nichts aufzufallen.
Sein Sprachgefühl kann Sommer unmöglich auf seinen Posten als Chef der wichtigsten westdeutschen Wochenzeitung gebracht haben. Seine Analysefähigkeit auch nicht. Was ihm offenbar lebenslang half, war das Selbstbewusstsein, dass ihm damals in Sonthofen eingeflößt wurde, das Gefühl, zu Führungsaufgaben bestimmt zu sein. Und dazu etwas Glück, außerdem die Fähigkeit, sich immer und überall – auf der Ordensburg, im Medienbetrieb, in der DDR – so konform wie möglich zu verhalten. Sein Instinkt, der ihn drüben von Oppositionellen fernhielt, leitete ihn schon völlig richtig.

Mindestens ein dutzend Mal bescheinigt er sich in seiner Selbstbiografie, liberal zu sein. Sein praktisches Verständnis von Liberalität zeigte sich vor allem darin, die ostdeutsche Diktatur gefällig auszuleuchten, im Westen vor „Großmachtschwärmerei und Hurrapatriotismus“ zu warnen (dann aber die deutsche Klimaweltrettungsattitüde, also den Hurrapatriotismus in grün, ebenso glatt wie gnädig zu übersehen), und nebenbei – auch das kommt kurz in seinem Werk vor – die Etablierung des Islam als wertvolle Bereicherung Deutschlands zu lobpreisen. Sommers journalistisches Vermächtnis besteht in exakt jener Nullachtfünfzehn-Mischung, die man seinerzeit in Hamburg und heute mit identitätspolitischer Soße verziert auch in Berlin an jeder Medienbetriebsecke dreimal gereicht bekommt. Sein „Zeit meines Lebens“ gleicht erstaunlich den gedruckten Selbstrechtfertigungen greiser DDR-Funktionäre, die sich mit neunzig Jahren auf dreihundert Seiten unentwegt selbst zunicken: War alles richtig, war alles richtig.

„Journalisten“, erklärt Sommer zum Schluss, „sie gehören sämtlich der Gilde der Welterklärer und Weltverbesserer an. Ihr habe ich mich zeitlebens zugehörig gefühlt.“ Wer sich von ihm die Welt erklären ließ, war selbst schuld. Mit den anderen Leitartiklern der Republik aus seiner alten Garde verbindet ihn ebenso wie mit den wohlgesinnten Jüngeren die Eigenschaft, grundsätzlich nie Kleingeld dabeizuhaben. Das Kapitel über seine Asienreisen ist allen Ernstes mit „Die Entdeckung Asiens“ überschrieben, darunter macht es ein Welterklärer einfach nicht. An einer Stelle sinniert Sommer, was aus ihm geworden wäre, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte, und bietet an: „Gauleiter von Jekaterinburg oder Chicago“, aber vielleicht auch ein Widerstandskämpfer, der „am Fleischerhaken in Plötzensee“ hätte enden können. Also in jedem Fall etwas ganz großes, kein bleicher Musterknabe im Meinungsschaffungsbetrieb.
Dass ein Mann, der sich aus purer Eitelkeit und ohne jeden äußeren Druck einem piefigen Kleindiktator andiente und auch noch im Jahr 2022 ein Kränzchen windet, sich probeweise das Kostüm eines Stauffenberg umhängt, gehört zu den abstoßendsten Stellen dieses Buchs.

 

Theo Sommer „Zeit meines Lebens. Erinnerungen eines Journalisten“, Propyläen, 512 Seiten, 32 Euro

 


 


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5 Kommentare
  • Roy
    26. November, 2022

    Die ZEIT ist also so, wie man es sich als Nicht-Leser der ZEIT immer gedacht hatte.

  • Prof. Dr. Franz Kromka
    26. November, 2022

    Gratulation, lieber Herr Wendt! Ihre Rezension der Theo Sommerschen “Erinnerungen” ist informativ, sarkastisch und nicht zuletzt mit Ironie verfasst. Leider wird sie wohl von Leuten, die von der Wiederauferstehung eines diktatorisch-sozialistischen Staates träumen, nicht gelesen werden …

  • Werner Bläser
    27. November, 2022

    Da im Text schon al-Tabari (normalerweise at-Tabari geschrieben) erwähnt wird: Noch interessanter als seine Koran-Exegese ist seine ‘Allgemeine Weltgeschichte’ (auch einfach “Annalen” genannt). Sie ist, was die Beschreibung des Lebens von Mohammed angeht, weit ausführlicher als z.B. Ibn-Ishak (bei Tabari die Bücher 6 – 9 der engl. Übersetzung von F. Rosenthal). Gottseidank sind die Annalen komplett im Internet Archive lesbar. Keine Angst vor “ollen Kamellen” – die Lektüre lohnt sich!
    – Als zweites, da bald Weihnachten ist, möchte ich noch einmal an die Geschichte von Böll erinnern, “Nicht nur zur Weihnachtszeit”. Böll hatte sie zwar anders gemeint, aber irgendwie scheint sie mir gerade zum aktuellen Deutschland zu passen.
    Habt Ihr nicht das Gefühl, dass wir mittlerweile in Symbolen, Ritualen und sinnleeren Zwängen ersticken? Bölls Geschichte, in der täglich Weihnachten gefeiert werden muss, weil eine durchgeknallte alte Tante einen fanatischen Spleen für das Fest entwickelt, bildet für mein Empfinden gut das neue Deutschland ab, in dem peinlich darauf geachtet werden muss, sich (politisch) korrekt zu verhalten und bestimmte Pflicht-Narrative (Umwelt- und Klimaschutz, Anti-Rassismus, etc.) rituell zu bedienen – ohne diese rituellen Perma-Pflichten und die Vermeidung von entsprechenden Tabus ist ja kein öffentlicher Auftritt mehr möglich. Es erinnert ja schon an die magischen Rituale von Naturvölkern.
    Und eigentlich wäre es höchste Zeit, dass ein Ethnologe vom Schlage eines Malinowski oder Kroeber sich einmal per Feldstudie jenes primitiven Teutonenstamms annimmt, zu dem wir geworden sind.

  • Thomas
    27. November, 2022

    3 Bücher

    • Salman Rushdie „Die satanischen Verse“, Penguin, 720 Seiten, 14 Euro

    • *Eins sollten Leser allerdings vorher wissen: Wer nicht ein gewisses Maß an Koran- und Islamkenntnis mitbringt, dürfte den raffinierten Anspielungsapparat Rushdies mit seinen doppelten und dreifachen Böden kaum verstehen.*

    Ja. Das geht mir auch so. Ich hatte es mal ausgeliehen und mich durchgekämpft. Gekauft habe ich mir das Buch nie. Eine Freundin schenkte mir mal Rafik Schamis „Der ehrliche Lügner“. Damit erging es mir zwar etwas besser, aber ich konnte dem koketten Gebrauch von Lügen und Märchen im Umgang mit Mitmenschen noch nie etwas abgewinnen. Bin da wohl zu nüchtern. Viel mehr interessiert mich beispielsweise die Frage, warum gewisse Bessermenschen nicht öffentlich die (rhetorische) Frage in den Raum werfen, wer da wohl im Falle Rushdie 2022 „mitgestochen hat“. Aber da wäre ich wohl schon beim dritten Buch.

    • Sandra Kostner, Tanya Lieske (Herausgeber) „Pandemiepolitik – Freiheit unterm Rad?: Eine interdisziplinäre Essaysammlung“, ibidem, 210 Seiten, 24 Euro

    • *Nach ihrer Beteuerung in den vergangenen 30 Monaten, ihre Maßnahmen seien alternativlos, begingen die meisten Angehörigen des politisch-medialen Komplexes mit ihrer Vorwärts und Vergessen-Forderung gerade den nächsten Fehler nach exakt dem gleichen kollektiven Muster.*

    Sehr richtig. So ist es. Und die so genannten „Berater“ hinter den Gesichtern machen einfach weiter. Ich tue das nicht. Ich wähle keine Gesichter mehr. 24 Euro ist da nicht zu teuer.

    • Theo Sommer „Zeit meines Lebens. Erinnerungen eines Journalisten“, Propyläen, 512 Seiten, 32 Euro

    • *In Sommers Reminiszenz taucht neben anderen auch der Spiegel-Redakteur Gerhard Spörl als Mitglied der Reisegruppe auf.*

    Da gibt es so richtig dicke Dinger, was DDR-Demokraten in den Institutionen der BRD 2022 betrifft. Mit den Erinnerungen ist es beim Menschen so eine Sache. Überhaupt bei Journalisten. Beispielsweise schrieb Sommer 1993 in der „ZEIT“ über einen „Abgrund von Doppelmoral“: Die Bürger könnten „von ihren Vertretern schwerlich mehr Gemeinsinn verlangen, als sie selber an den Tag legen“. Als es dann 2014 um das menschliche Versagen von Uli Hoeneß ging und er selber ebenfalls vor Gericht stand,
    https://www.zeit.de/1993/21/ein-abgrund-von-doppelmoral
    da sagte der Richter am Schluß zu ihm: “… ich glaube, Sie verstehen es selber nicht so recht.” Und der Angeklagte nickt.
    https://www.sueddeutsche.de/medien/ehemaliger-zeit-chef-theo-sommer-ich-habe-einen-riesenfehler-begangen-1.1869369
    Soviel zum Menschlichen.

    Wieso sich aber die „Sommers dieser Welt“ gegenüber Hoeneß in einer moralisch besseren Position verortet, bleibt ihr politisches Geheimnis. Denn das Gegenteil ist der Fall: Uli Hoeneß hat sich nie zum publizistischen Vorkämpfer des gierigen Steuerstaates gemacht. Er hat nie andere aufgefordert, gefälligst steuerehrlich zu sein. Insofern hatte Sommer recht: Er ist kein Uli Hoeneß. Wer sich heute nämlich fragt, wieso die Einen angeblich zum Nationalsozialismus zurück wollen und angeblich nichts von Auschwitz gelernt haben sollen, nur weil sie sich weigern, auf einer Demonstration unter freiem Himmel eine Maske vor den Mund zu tragen, während andere Leute mit ihrem Klimaterror einen Beitrag zur Demokratie leisten (und die politische Nachbarschaft für die Behörden in diesem Fall keinerlei Rolle spielt), der kann sich bei gewissen „Journalisten“ und deren Milchbrüdern in den Büros bedanken. Bei deren Doppelmoral. Nie waren bundesdeutsche Regierungspolitik, politisches Kabarett und Nachrichten samt Tagesschau, bis hin zu bundesdeutschen Filmbotschaften, so verwechselbar grün wie heute.
    https://jungefreiheit.de/kultur/medien/2022/gruene-neue-welt/
    Die Leute aus den Kinderkrippen und Kadern der BRD…DDR haben es möglich gemacht. Da haben sich Leute zum Teil einer Bewegung gemacht, und das ist der Punkt. Sommer hat da wohlmeinend mitgemacht. Und alle zusammen werden sie weitermachen, so lange ihre Leute immer wieder gewählt werden. Und das werden sie deshalb immer wieder, weil die Deutschen im Grunde fügsame und bequeme Leute sind, die gerne irgendwas lesen. Ein Buch über den Sommer? Naja, wer´s mag. Das Buch wurde bei Publico ja besprochen, nicht empfohlen.
    Gut so.

  • Thomas Schweighäuser
    28. November, 2022

    Dass Theo Sommer ein Meister der Stilblüte war, konnte man in Gremlizas Express nachlesen. Konkret-Leser wissen also längst, dass das Buch Lebenszeit verschwendet. Etwas befremdlich wirkt, abgesehen von der plump angedeuteten Hufeisentheorie, der Vergleich zu Goldschmidt: Der hatte sich den Aufenthalt im Internat nicht freiwillig ausgesucht, sondern weil ihm die Ordensburgherren nach dem Leben trachteten.

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